Alle Wege führen nach Berlin Deutsche Unternehmen beherrschen die Ökonomien Osteuropas. Die Region schafft es bisher kaum, die Wohlstandslücke zu Deutschland und den anderen Volkswirtschaften Westeuropas merklich zu verringern.
BERLIN(Eigener Bericht) – Deutsche Konzerne nehmen unter den 500 umsatzstärksten Unternehmen Osteuropas führende Positionen ein. Insbesondere Autohersteller und Handelsketten befanden sich auf den ersten Positionen der Rangliste für das Jahr 2020, die der französische Kreditversicherer Coface Ende 2021 veröffentlicht hat. Generell dominieren westliche Firmen mittels ihrer Direktinvestitionen die Wirtschaft der Region. Weil es den dortigen Staaten an international konkurrenzfähigen Konzernen mangelt, vermögen sie es kaum, den Abstand zu den westlichen EU-Ökonomien wirksam zu verringern. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche spricht von einer „Wachstumfalle“. und empfiehlt die Schaffung von „headquarter economies“ mit hoher einheimischer Wertschöpfung. Unterdessen bemühen sich die Staaten Ost- und Südosteuropas, über Verbünde wie die Visegrád-Gruppe oder die „Drei-Meeres-Initiative“ ihre interne Integration voranzutreiben. Dabei spielt auch der Ausbau der Infrastruktur eine wichtige Rolle, die in Ost- und Südosteuropa bislang hauptsächlich auf die westlichen Zentren der EU ausgerichtet ist.
Zitat: Überlegene Stellung deutscher Konzerne
Volkswagen, Lidl und andere deutsche Konzerne dominieren die osteuropäische Wirtschaft. Die Rangliste der 500 umsatzstärksten Firmen der Region Zentral- und Osteuropa (CEE), die der französische Kreditversicherer Coface unlängst für das Jahr 2020 veröffentlicht hat, führt unter den ersten Zehn mit VW, dem VW-Ableger Škoda, Audi und Lidl vier bundesdeutsche Unternehmen.[1] In den Top 50 konnten sich weitere Konzerne wie Mercedes, Bosch, Kaufland und Rewe platzieren. Ihre Wirtschaftskraft verschafft ihnen in den einzelnen Ländern erheblichen Einfluss. So ist Škoda der größte Industriebetrieb Tschechiens, Bosch der größte Arbeitgeber Ungarns und Volkswagen in der Slowakei der größte Steuerzahler aus dem Unternehmenssektor.
Osteuropa kaum vertreten
Auf den ersten 50 Rängen listet die „CEE Top 500“ überhaupt nur 28 osteuropäische Firmen. Bei ihnen handelt es sich zum überwiegenden Teil um Konzerne aus dem Energie- und Rohstoffsektor, die ganz oder teilweise in staatlichem Besitz sind. Lediglich in der Pharmabranche existiert eine bedeutendere eigenständige Produktion. Daneben reüssieren ausschließlich Unternehmen aus weniger kapitalintensiven Bereichen wie dem Lebensmittelsektor. Einzig Polen hat High-Tech-Unternehmen wie den Softwarehersteller Asseco oder den Medien- und Telekommunikationskonzern Cyfrowe hervorgebracht, die in dem Ranking vordere Plätze belegen.
Keine Global Player
Ansonsten fehlen weitgehend eigene, international konkurrenzfähige Konzerne. Die Region zieht vor allem ausländische Direktinvestitionen an. Besonders die Autoindustrie tritt dabei hervor, die den arbeitsintensiven Teil des Herstellungsprozesses in die Staaten Ost- und Südosteuropas verlagerte. Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien und andere Standorte galten lange Zeit nur als verlängerte Werkbank der Unternehmen. Inzwischen siedeln diese dort auch komplexere Fertigungen und manchmal sogar Abteilungen für Forschung und Entwicklung an. Gleichwohl befinden sich die lukrativeren Glieder der Wertschöpfungsketten nach wie vor an den Stammsitzen der Konzerne.
Die Schere schließt sich nicht
Nicht zuletzt deshalb gelingt es den betreffenden Volkswirtschaften immer noch nicht, die Lücke zum durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU zu schließen. Die Slowakei kam 2020 beim BIP pro Kopf, gemessen nach Kaufkraftparität, auf 70 Prozent des EU-Niveaus, Ungarn auf 74, Polen auf 76 und Tschechien auf 93 Prozent.[2] Länder ohne bedeutende Direktinvestionen von ausländischen Konzernen bleiben noch weiter zurück. Für Bulgarien weist die EU-Statistikbehörde Eurostat 46 Prozent des EU-BIP pro Kopf aus, für Kroatien 64 und für Lettland 70 Prozent. Lediglich Estland mit 84 und Litauen mit 87 Prozent stehen besser da.
Die Wachstumsfalle
Seit der Finanzkrise von 2008 hat sich der Annäherungsprozess zudem verlangsamt. Nach Berechnungen des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) wird es noch mindestens bis zum Jahr 2045 dauern, den Abstand auch nur zu halbieren.[3] Dem WIIW zufolge stößt das auf ausländischen Direktinvestitionen beruhende, hauptsächlich auf den Export ausgerichtete Wirtschaftsmodell der Staaten Osteuropas an seine Grenzen; in einer Studie des Instituts ist von einer „Wachstumsfalle“ die Rede.[4] Die Autoren sehen keine Chance, mehr Kapital aus anderen Ländern zu akquirieren. Überdies betrachten sie die große Abhängigkeit von der Kfz-Industrie als Gefahr, zumal die Branche mit dem Übergang zur Elektromobilität vor einschneidenden Veränderungen steht. Selbst wenn es den Ländern der Region gelänge, auch die E-Auto-Produktion in ausreichendem Maß anzuziehen, was nicht ausgemacht ist, ergäben sich Einbußen, so die WIIW-Forscher. „Die Produktion von Elektro-Fahrzeugen wird schwerwiegende Auswirkungen auf die Wertschöpfungsketten und die Beschäftigung haben, da 60 Prozent der Materialien (wie Elektronik und Batterien) nicht den traditionellen Automobil-Lieferketten entstammen“, konstatieren sie.[5]
Die Folgen der Austeritätspolitik
Um der Wachstumsfalle zu entkommen, hält das WIIW den Aufbau von „headquarter economies“ mit einer hohen einheimischen Wertschöpfungsrate für nötig. Es gibt jedoch in Osteuropa nicht genügend privates Kapital, das mit langfristigen Investments die Entstehung nationaler Champions fördern könnte. Darum übernimmt bislang der Staat häufig diese Rolle. Das WIIW plädiert dafür, diesen Prozess auf EU-Ebene durch eine Abkehr von der Austeritätspolitik des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu unterstützen: „Solange die Haushaltsdefizite niedergehalten werden, wird auch das Wachstum des öffentlichen Verbrauchs, der öffentlichen Investitionen und der Sozialtransfers niedergehalten.“ Um dies zu ändern, sei ein Paradigmenwechsel nötig. „Ohne ein nachhaltiges Umdenken in Ländern wie Deutschland und den ‚sparsamen vier’ Euro-Ländern ... werden der Politik in EU-CEE zumindest teilweise die Hände gebunden sein“, warnen die Ökonomen.[6]
„Eine nationale Bourgeosie schaffen“
In den vergangenen Jahren haben vor allem ultrarechte Regierungen eine aktive Wirtschaftspolitik betrieben. So kaufte Ungarn unter Ministerpräsident Viktor Orbán von E.ON und von RWE deren Gasgeschäft sowie von dem US-Multi General Electric die Budapest Bank zurück. Momentan bemüht sich das Land um den Erwerb des Budapester Flughafens. Nicht selten folgt diesen Schritten dann eine Veräußerung an Unternehmer aus Orbáns Umfeld. „Die Regierung will eine nationale Bourgeoisie schaffen“: Mit diesen Worten charakterisiert der Ökonom Gábor Scheiring die – oftmals mit mehr oder weniger starkem Druck auf die ausländischen Besitzer einhergehende – ungarische Politik.[7]
Dirigismus 2.0
Andere Länder gehen ähnlich vor. So wollte Andrej Babiš in Tschechien eine Quotenregelung für einheimische Nahrungsmittel einführen, was allerdings am Widerstand von Senat und Abgeordnetenkammer scheiterte. Polen gelang indessen die Fusion seiner beiden großen Mineralölkonzerne Orlen und Lotos. Experten nennen Warschaus Strategie, der „ungleichen Verteilung der wirtschaftlichen Macht zwischen der ‚alten’ EU und der ‚neuen’ EU“ zu begegnen, „Dirigismus 2.0“ und empfehlen sie der gesamten Region als Blaupause.[8]
Ablehnung aus dem Westen
Die Eliten Westeuropas beobachten die Entwicklung ablehnend. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung etwa, die mit ihren Krediten bestrebt ist, „den Übergang zu einer offenen Marktwirtschaft zu unterstützen“, warnt vor einem Rollback und überschreibt ihren neuesten „Transition Report“ ablehnend mit „The State strikes back“.[9] In Tschechien wandten sich der deutsche Botschafter und sieben seiner EU-Kollegen in einem Protestbrief gegen Babiš‘ „Lebensmittel-Nationalismus“. Kaufland-Landesgeschäftsführer Stefan Hoppe, die deutsch-tschechische Handelskammer und der Ostausschuss der deutschen Wirtschaft kritisierten die Pläne ebenfalls vehement. Die Fusion von Orlen und Lotos wurde zwar von der EU-Wettbewerbsbehörde genehmigt, aber nur unter harten Auflagen. Unter anderem musste Lotos sich von einem Großteil seines Tankstellennetzes trennen, ein Joint-Venture mit BP auflösen und zwei Bitumen-Produktionsstätten abstoßen.
Auf Deutschland ausgerichtet
Die osteuropäischen Staaten bemühen sich zudem, ihre Position durch regionale Verbünde zu stärken. Die 1991 von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei gegründete Visegrád-Gruppe hat es bisher jedoch nicht vermocht, den Handel zwischen den vier Ländern stärker zu beleben. Ihre Ökonomien bleiben schwerpunktmäßig auf Deutschland ausgerichtet und stehen im Standortwettbewerb um Industrieansiedlungen. Zur Zeit buhlen sie etwa um eine Batteriezellenfabrik von VW. Der Konzern untersucht „aktuell mehrere Standorte insbesondere in osteuropäischen Ländern“ [10] und hat dabei vor allem Rahmenbedingungen wie das Wirtschaftsumfeld und staatliche Fördermittel im Blick [11].
Die „Drei-Meere-Intiative“
Zugleich unternehmen die osteuropäischen Staaten Anstrengungen, ihre Infrastruktur auszubauen. Die EU hat über die Jahre zwar viele Maßnahmen finanziert - etwa den Bau von Verkehrswegen -, allerdings förderten diese nicht unbedingt die interne Integration. „Aus historischen und geographischen Gründen wurde dabei der Schwerpunkt auf Projekte gelegt, in deren Rahmen die Verbindungen mit den westlichen EU-Ländern wiedererrichtet wurden“, räumt die EU ein.[12] Darum verfolgen zwölf Staaten im Rahmen der „Drei-Meere-Initiative“ nun das Ziel, auch die Infrastruktur auf ihrer Nord-Süd-Achse auszubauen. „Unsere Region wird als eine politische Einheit betrachtet, unter Infrastruktur-Gesichtspunkten ist sie allerdings sehr zerklüftet und geteilt“, urteilte der damalige polnische Präsidentenberater Krzysztof Szczerski 2017 im Vorfeld des Warschauer „Drei-Meeres-Kongresses“. Er äußerte zwar ein gewisses Verständnis für die dominierende Ausrichtung von Straßen und Schienen in Richtung Westen, machte dahinter jedoch nicht zuletzt Interessenpolitik aus: „Dies war in gewisser Weise eine natürliche Folge der Überwindung der Teilung des Kalten Krieges, aber auch dem ökonomischen Bedürfnis der westlichen Länder geschuldet, Zugang zu den östlichen Märkten zu erhalten.“[13] Mit Vorhaben wie der Via Carpathia oder der Rail Baltica will die „Drei-Meere-Initiative“ Abhilfe schaffen. Sie akquiriert dafür auch Gelder der EU, die mittlerweile betont, „dass den Ost-West- und den Nord-Süd-Verkehrskorridoren im transeuropäischen Verkehrsnetz die gleiche Aufmerksamkeit zuteil werden sollte“.[14] Von der Rail Baltica, die von Tallinn nach Warschau verläuft, profitiert allerdings nicht zuletzt Deutschland: Vom Baltikum aus ist über die polnische Hauptstadt Berlin gut zu erreichen.
[1] Coface CEE Top 500 Ranking. cofacecentraleurope.com.
[2] ec.europe.eu.
[3] Astrov et al.: CESEE Back on Track to Convergence, zitiert nach: Grieveson et al.: Avoiding a Trap and Embracing the Megatrends: Proposals for a New Growth Model in EU-CEE. Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Wien 2021.
[4], [5], [6] Grieveson et al.: Avoiding a Trap and Embracing the Megatrends: Proposals for a New Growth Model in EU-CEE. Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Wien 2021.
[7] „Fidesz vertrat immer das ungarische Kapital“. Jungle World 14.01.2021.
[8] Michal Richter, Jacub A. Bartoszewski: Dirigisme 2.0. – the way to go for the region? New Eastern Europe, No. 5/2020.
[9] ebrd.com.
[10] Tschechien baut sich eine Gigafactory. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.07.2021.
[11] VW will 2022 über Batteriezellfabrik in Osteuropa entscheiden. onvista.de 11.10.2021.
[12] Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur Verbesserung der Anbindung und der Barriere-Freiheit der Verkehrsinfrastruktur in Mittel- und Osteuropa. europarl.europa.eu.
[13] Trójmorze – czym jest koncepcja forsowana przez prezydenta Andrzeja Dudę? wiadomosci.onet.pl 04.07.2017.
[14] Entwurf einer Entschließung des Europäischen Parlaments zur Verbesserung der Anbindung und der Barriere-Freiheit der Verkehrsinfrastruktur in Mittel- und Osteuropa. europarl.europa.eu. S. auch Osteuropas geostrategische Drift und Rohstofflieferant für die EU-Energiewende.
Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8808