Cancel-Culture: Kollektive Zensur
Wer die Cancel-Culture nicht ernst nimmt, schaue in die USA: Dort werden nicht nur falsche Meinungen, sondern auch Falschmeinende bekämpft. Eine Warnung
DIE ZEIT, 12. August 2020, 16:40 Uhr Editiert am 17. August 2020, 20:30 Uhr,Von Yascha Mounk
Zitat: "Bei der Cancel-Culture geht es nie nur um den Einzelnen. Wenn sich das Prinzip, dass Aktivisten einen Künstler oder Schriftsteller für unakzeptabel erklären können, einmal etabliert, verengt sich der öffentliche Diskurs rapide."
Zitat: Erste Journalisten und Schriftsteller, darunter einige Freunde und Bekannte von mir, müssen aufgrund missliebiger Standpunkte um Job und Aufträge fürchten. "Meine wahre Meinung verrate ich nur meinen engsten Freunden – und selbst dann nur vorsichtig", sagte mir kürzlich sogar eine meiner Studentinnen.
Welche Meinungen sind es, die meine Studenten, Kollegen und Bekannten nicht mehr öffentlich äußern mögen? Sind sie Sexisten? Rassisten? Heimliche Trump-Fans?
Mitnichten. Es sind Menschen, deren Weltsicht linksliberal ist und deren Lebensweise kosmopolitisch. Es sind Menschen, die Donald Trump verabscheuen. Menschen, die, hätten sie in Deutschland das Wahlrecht, wohl Angela Merkel bewundern, aber ohne Zögern für die Grünen stimmen würden.
Zitat: Erstens ist es immer verlockend, sich nur dann vor Opfer der Cancel-Culture zu stellen, wenn sie eine persilreine Weste haben. Aber das ist ein Fehler, denn das Problem mit der Cancel-Culture ist nicht etwa das Ziel, auf das sie sich einschießt, sondern ihre Methode. Deshalb sollten zum Beispiel auch diejenigen, die Dieter Nuhr für langweilig und Lisa Eckhart für geschmacklos halten, für deren Redefreiheit einstehen.
Zweitens müssen Entscheidungsträger den Mut haben, an ihren Prinzipien festzuhalten. Beugen sie sich unrepräsentativen Twitter-Mobs, begehen sie Verrat an ihrer Verantwortung und holen sich letztlich nur noch mehr Ärger ins Haus. Ein selbstbewusstes Nein kann dagegen Wunder wirken.
Und drittens hat Deutschland von der AfD bis zu Corona-Skeptikern viel größere Probleme. Aber das ist kein Grund, die Cancel-Culture zu ignorieren. Denn über kurz oder lang profitieren, wie in den USA schmerzlich zu sehen ist, gerade die wahren Feinde der Demokratie, wenn Demokraten es versäumen, konsequent für Werte wie die Meinungsfreiheit einzustehen.
Kommentar: Es ist bezeichnend für die Absurdität gegenwärtigen Geschehens, dass die Autorin dieses Artikels, in dem sie die Folgen der Cancel-Culture als kollektive Zensur beklagt, sich nicht scheut am Ende selbst suggestiv zu sein. Thomas Bauer