jungewelt.de, Ausgabe vom 13.10.2020
Am vergangenen Sonnabend erhielt der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner in Frankfurt am Main den Hans-Litten-Preis durch die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ). Die Laudatio trug der ehemalige hessische Justizminister Rupert von Plottnitz vor. Wir dokumentieren an dieser Stelle, redaktionell leicht gekürzt, die Rede, die Gössner anlässlich der Verleihung gehalten hat.
Zitat: Vermintes Gelände
So, und jetzt verlassen wir die geheimen Gefilde und wagen uns auf ziemlich vermintes Gelände: Wie bereits angekündigt möchte ich noch auf das Thema »Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand und in der »neuen Normalität« eingehen. Ich habe mich im Frühjahr sehr schwer getan, mich in diese Problematik einzumischen, Coronaabwehrmaßnahmen bürgerrechtlich zu hinterfragen und öffentlich Kritik zu üben – und zwar wegen der durchaus realen Befürchtung, am Ende als »Coronaverharmloser« dazustehen, als unsolidarischer »Grundrechtsfreak« oder verantwortungsloser Freiheitsapostel. Geht es doch bei Corona, wie es immer wieder heißt, um nicht weniger als um »Leben und Tod«. Der moralische Druck und die Angst waren jedenfalls immens und wurden von Regierungsseite und Massenmedien regelrecht forciert. Und so kam es, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den Lockdown und die ergriffenen Abwehrmaßnahmen als »alternativlos« akzeptierte, dass viele Menschen, Verbände und auch die parlamentarische Opposition, einschließlich Linke und Grüne, allzu lange den Regierungskurs weitgehend mitgetragen haben. Sie haben sich aus unterschiedlichen Gründen mit ihrer Kritik zurückgehalten und selbst mutmaßlich unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe nicht oder nur zögerlich hinterfragt – trotz mitunter widersprüchlicher und willkürlicher Maßnahmen, trotz anfänglicher verfassungswidriger Aushebelung der Versammlungsfreiheit, trotz Gesetzesverschärfungen im Eiltempo und ohne Expertenanhörung, trotz weiterer Verschiebung des politischen Machtgefüges zugunsten der Exekutive, trotz weiterer Entmachtung des Parlaments.
Angesichts solcher Zurückhaltung oder auch Konfliktscheu fühlte ich mich regelrecht gedrängt, mit meinen skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen zum alptraumhaften Coronaausnahmezustand und zur »neuen Normalität« dazu beizutragen, in dieser bedrückenden Zeit großer Unsicherheit bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene, für eine kritische und kontroverse Debatte. Denn auch die gesellschaftliche Debatte hat – nicht zuletzt in den Medien – allzu lange unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck gelitten, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung. Diskussionskultur und Meinungsvielfalt haben in der Coronakrise jedenfalls gehörig gelitten, und sie leiden noch immer – auch wenn Zweifel, Kritik und Gegenstimmen längst lauter geworden sind, sich aber mitunter auch skurril bis gefährlich verirren.
Bei so viel immunschwächender, leicht manipulierbarer Angst und selten erlebter Eintracht waren und sind jedoch Skepsis und kritisch-konstruktives Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und Verordnungen, die unser aller Leben stark durchdringen, nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten – ebenso wie die Überprüfung harter Grundrechtseingriffe auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit. Schließlich kennzeichnet das eine lebendige Demokratie – nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in Zeiten großer Unsicherheit und Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus unterschiedlichen Richtungen lauern, gerade in Zeiten, die nicht nur die Gegenwart, sondern in besonderem Maße auch unsere Zukunft schwer belasten. In solchen Zeiten sind vor allem auch demokratische Juristinnen und Juristen besonders gefordert.
Denn das Coronavirus gefährdet ja nicht allein Gesundheit und gar Leben von Menschen, sondern schädigt auch elementare Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – »dank« jener gravierenden Coronaabwehrmaßnahmen, die dem erklärten und wichtigen Ziel dienen sollen, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben zu schützen. Abwehrmaßnahmen, die jedoch gleichzeitig – wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik – tief in das alltägliche Leben aller Menschen eingreifen, die dabei schwerwiegende individuelle, familiäre, schulische, berufliche, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Schäden und dramatische Langzeitfolgen verursachen, deren Ausmaß der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland noch lange schwer zu schaffen machen wird. Es war der Historiker René Schlott, der davor warnte, auf diese Weise die »offene Gesellschaft zu erwürgen, um sie zu retten«.
Es ist hierzulande mit sinnvollen Schutzregeln zwar vieles richtig gemacht worden, aber leider auch manches falsch, zu wenig differenziert und nicht verhältnismäßig. Es gibt begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der panikartig und pauschal verhängten Lockdown-Maßnahmen auf ungesicherter Datengrundlage. Mit regionalem, lokalem und zielgruppenorientiertem, dennoch verantwortbarem Vorgehen hätten wohl viele Schäden, hätte viel persönliches Elend verhindert werden können.
Auch die Justiz, die anfänglich die exekutiven Freiheitsbeschränkungen kaum in Frage stellte, hat mittlerweile in fünfzig und mehr Fällen staatliche Coronamaßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Allein das müsste doch zu denken geben. Die Gerichte mahnen mit Blick auf die jeweils aktuelle Coronainfektionslage – die im übrigen ebenfalls differenzierter als bislang beurteilt werden müsste – immer häufiger eine differenziertere Betrachtung und Behandlung des Einzelfalls an. Das gilt auch für Zeiten erhöhter Infektionszahlen, wie wir sie gegenwärtig erleben. Ich denke dabei nur an die fragwürdigen neueren Beherbergungsverbote und Quarantäneauflagen für Reisende aus inländischen Risikogebieten.
Wachsamkeit geboten
Bei all dem sollte doch Berücksichtigung finden, was zeitweise in Vergessenheit geraten ist: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen, die durch die Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein »Supergrundrecht Gesundheit«, das alle anderen Grundrechte in den Schatten stellt, genausowenig wie ein »Supergrundrecht Sicherheit«. Auch die (Über-)Lebenschancen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Gruppen sind bei Rechtsgüterabwägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.
Und noch ein Warnhinweis für die Zukunft: Der Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat, wie er sich hierzulande längst entwickelt hat, tendiert dazu, auch nach erfolgter Krisenbewältigung zum rechtlichen Normalzustand zu werden; dies kann zu einer gefährlichen Beschleunigung des längst eingeschlagenen Kurses in Richtung eines präventiv-autoritären Sicherheits-, Kontroll- und Überwachungsstaates führen. Das hat sich nach 9/11 deutlich gezeigt. Deshalb ist schon jetzt höchste Wachsamkeit geboten, damit sich der neue gesundheitspolitische Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert – schließlich ist längst die Rede von »neuer Normalität« auf unbestimmt lange Zeit; und es ist schon jetzt höchste Wachsamkeit geboten, damit die längst zu verzeichnende autoritäre Wende sich nicht verfestigt mit einem paternalistischen Staat, einer restriktiven und überregulierten Gesellschaft sowie einem stark kontrollierten und verkrampften Alltag.
Im übrigen plädiere ich für die Einrichtung unabhängiger interdisziplinärer Kommissionen in Bund und Ländern. Deren Aufgabe sollte es sein, die Politik in der »Coronakrise« kritisch zu begleiten sowie Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre sozialen, psychischen und wirtschaftlichen Folgen zu evaluieren. Aus den so gewonnenen Erkenntnissen ließen sich dann Lehren ziehen für eine differenziertere und damit verhältnismäßige Bewältigung der weiteren Coronaentwicklung und künftiger Epidemien.
Doch es muss darüber hinaus auch darum gehen, Perspektiven für überfällige gesellschaftliche, gesundheitspolitische, sozioökonomische, ökologische und friedenspolitische Strukturveränderungen zu entwickeln und umzusetzen – in Richtung Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Abrüstung und Frieden, kurz: für eine gerechtere und zukunftsfähige Gesellschaft.
Zum Abschluss möchte ich nochmals der VDJ für den Hans-Litten-Preis, Rupert von Plottnitz für seine Laudatio und allen heute Mitwirkenden herzlich danken für diese Preisverleihung unter erschwerten Coronabedingungen – darüber hinaus auch meinen Mitstreitern und Wegbegleitern, denn alleine hätte ich das alles wohl nicht geschafft.
Und dann möchte ich noch, wie ich es gerne bei solchen Gelegenheiten mache, an einen Ausspruch des Schriftstellers Günther Eich erinnern, den ich in meinem Abitur 1967 mit Bedacht als Aufsatzthema ausgewählt hatte und der in gewisser Weise zu meinem Lebensmotto wurde: »Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.« Dieser Satz, dieser Aufruf gilt gerade auch in diesen schweren Zeiten der Pandemie und großer Gefahren – die, wie gesagt, aus ganz unterschiedlichen Richtungen lauern. Die heutige Preisverleihung gibt mir hoffentlich Kraft, diesem Lebensmotto weiterhin treu zu bleiben. Bleiben wir alle zusammen grundrechtssensibel – auch in Zeiten von Corona. Vielen Dank!
Info: https://www.jungewelt.de/artikel/388252.ausnahmezustand-neue-normalit%C3%A4t.html
Weiteres:
Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand (Rolf Gössner)
Der folgende Text ist die ergänzte und aktualisierte Langfassung eines Beitrags, der in gekürzter Version in der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ Nr. 8 v. 18.04.2020 erschienen ist (http://www.ossietzky.net/). Update: 24.04.2020
Zitat: Achtens: Nach dem Infektionsschutzgesetz, das sich streckenweise wie ein Polizeigesetz liest, können der Bundesgesundheitsminister und zuständige Behörden zur Gefahrenabwehr – unter Aushebelung der ärztlichen Schweigepflicht und des Datenschutzes – Meldepflichten anordnen, Quarantäne-Bestimmungen erlassen, Vorgaben zur Versorgung mit Medikamenten und Schutzausrüstung machen, Einschränkungen der Bewegungs- und Reisefreiheit sowie Aufenthalts- und Kontaktverbote verfügen, ebenso Tätigkeitsverbote für bestimmte Berufsgruppen, Verbote von Veranstaltungen bis hin zur Schließung öffentlicher und privater Einrichtungen etc. Die Verbote der Bundes- und Landesbehörden sind mit Polizeigewalt durchsetzbar, Zuwiderhandlungen werden mit zuweilen drastischen Bußgeldern und Strafen bedroht.
Darüber hinaus ist der Bundesgesundheitsminister gemäß Infektionsschutzgesetz ermächtigt, Ausnahmen von geltenden Gesetzen und Verordnungen zu verfügen. Mit solchen Regelungen wird die verfassungsrechtliche Bindung der Regierung an Gesetze unterlaufen. Solche Blanko-Ermächtigungen der Bundes-Exekutive ohne parlamentarische Kontrolle und Ländermitwirkung (Bundesrat) unterminieren die Verfassungsgrundsätze der Gewaltenteilung und des Föderalismus, weshalb diese Ermächtigungsnormen nach Auffassung etlicher Verfassungsrechtler*innen verfassungswidrig sein dürften.
Neuntens: In der Krise besteht darüber hinaus die Gefahr, dass ohnehin problematische Trends noch verstärkt werden: So die Militarisierung der „Inneren Sicherheit“ sowie die seit Jahren forcierte staatliche Überwachung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) strebt in der aktuellen „Corona-Krise“ weiterhin die Ortung von Handys an, die zunächst noch verhindert werden konnte: Auf diese Weise könnten automatisiert Bewegungs- und Verhaltensmuster der Mobilfunk-Nutzer erstellt werden, um festzustellen, mit welchen Personen Infizierte an welchen Orten Kontakt hatten. Das wäre ein schwerer Verstoß gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.
Die Weitergabe anonymer Telekommunikationsdaten u.a. durch die Telekom an das Robert-Koch-Institut ist bereits Praxis. Und künftig sollen es Apps auf Handys richten, die über Bluetooth sämtliche Kontakte zu anderen Handys mit Apps in der Nähe registrieren und für bestimmte Zeit speichern. Damit könnten im Falle der Infizierung eines der Handybesitzer die Kontaktpersonen auf digitalem Wege informiert werden, mit dem Ziel, dass sich diese Corona-Tests unterziehen oder gleich in Quarantäne begeben. Die App-Nutzung solle auf „freiwilliger Basis und anonymisiert“ erfolgen. Ob das wirklich funktioniert, ist fraglich, vor allem wenn nicht eine starke Mehrheit von Handybesitzern solche Apps installiert. Denn eine solche Mehrheit wäre nötig, damit dieses Instrument überhaupt ausreichend Wirkung entfalten kann. Damit könnte sich der Druck auf Mobilfunk-Nutzer*innen derart steigern, dass Freiwilligkeit nicht mehr gegeben wäre.
Im Übrigen ist schon deshalb besondere Vorsicht geboten, weil die digitale Überwachung sozialer Kontakte mehr als heikel wäre – und möglicherweise ein Einfallstor für weitere Begehrlichkeiten, wie etwa die verpflichtende Nutzung solcher Apps und möglicherweise auch für andere Zwecke. Von einigen Gesundheitsbehörden, wie etwa in Niedersachsen, werden bereits illegal persönliche Daten von Corona-Infizierten und Kontaktpersonen an die Polizei gemeldet. Inzwischen fliegen auch Polizei-Drohnen, so in Hessen und NRW, um die Corona-Kontaktregeln aus der Luft zu überwachen und Menschen im öffentlichen Raum per Lautsprecher von oben zu ermahnen. Whistleblower Edward Snowden warnte angesichts der Corona-Überwachungsmaßnahmen und -pläne bereits vor einem weiteren Schritt in den Überwachungsstaat.
Zehntens: Noch eine Trend-Verstärkung droht im Zuge der „Corona-Krise“: Die Bundeswehr wird bereits per Amtshilfe im Logistik- und Sanitätsbereich und für Desinfektionsaufgaben unterstützend eingesetzt – was durchaus sinnvoll sein kann. Sie hat bereits 15.000 Soldaten für den Inlandseinsatz zur Unterstützung von Ländern und Kommunen mobilisiert, bereitet sich aber auch auf die Unterstützung der Polizei vor, u.a. mit Militärpolizisten der Feldjäger für "Ordnungsdienste“ und zum Schutz kritischer Infrastrukturen (Spiegel 27.03.20, IMI-Standpunkt 2020/010). Doch polizeiähnliche Exekutivbefugnisse des Militärs im Inland sind verfassungsrechtlich höchst umstritten, da Polizei und Militär, ihre Aufgaben und Befugnisse strikt zu trennen sind – eine wichtige Lehre aus der deutschen Geschichte. Die Bundeswehr darf nicht zur nationalen Sicherheitsreserve im Inland werden, schon gar nicht mit hoheitlichen Kompetenzen und militärischen Mitteln. Soldaten sind keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet; und sie sind auch nicht dafür da, real existierende personelle Defizite der Polizei auszugleichen.
Info:https://www.ossietzky.net/8-2020&textfile=5113
Weiteres:
Dazu jetzt erschienen:
Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezstand, Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zu »neuer Normalität« und den Folgen, von Rolf Gössner, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (Hrsg.), 2020 Ossietzky Verlag GmbH, Dähre, 52. S.
Bestellen: ossietzky@interdruck.net