einfachkompliziert.de, 6. Mai 2021
Im folgenden Beitrag sollen die Hintergründe der aktuellen Krisenpolitik und des Ausnahmezustands in einem größeren Zusammenhang einer schon länger andauernden Tendenz zur technokratischen Krisenpolitik mit einer besorgniserregenden Aushöhlung der Demokratie beleuchtet werden.
Krisen und Ausnahmezustand als ’neue Normalität‘?
Nachdem die World Health Organization (WHO) am 11.3.2020 eine ‚Pandemie‘ aufgrund von Coronaviren (SARS-Cov-2/COVID-19) ausrief, herrscht in Deutschland und in vielen anderen demokratischen Staaten mehr oder weniger ein politischer ‚Ausnahmezustand‘, der französische Präsident Macron sprach sogar von Krieg. Der Ausnahmezustand, definiert als kriseninduzierte Expansion von Exekutivkompetenzen, wurde indes schon länger in vielen demokratischen Staaten immer mehr quasi zur ’normalen Regierungstechnik‘ (vgl. Agamben, 2004; Lemke, 2017). Besonders deutlich wurde die andauernde Nutzung des Ausnahmezustands in den USA seit dem 11.9.2001, jedoch haben immerhin 76 von 86 als Demokratien eingestufte Staaten zumindest schon Regelungen zum Ausnahmezustand getroffen (vgl. Förster, 2017). Das Beispiel des permanenten Ausnahmezustands in den USA seit 9/11 zeigte besonders drastisch, welch unglaubliche Erosion der politischen Kultur infolge einer entfesselten Krisenwahrnehmung selbst in vermeintlich ‚reifen Demokratien‘ entstehen kann, wobei u.a. Verschleppungen und willkürliche Inhaftierungen, Folter oder gezielte Exekutionen ohne Anklage und rechtsstaatliche Verfahren und Kontrollen zeigen, dass im Ausnahmezustand fast alles möglich wird (vgl. Förster, 2017, S. 304). Zwar wurde in den USA inzwischen wieder einiges am Rechtsstaat restauriert, die Befugnisse der Geheimdienste eingeschränkt und Kontrollmechanismen gestärkt (ebd. 317 f.). Indes wurde aber weder das Gefangenenlager Guantanamo geschlossen noch der ‚Drohnenkrieg‘ mit der Exekution von Terrorverdächtigen gestoppt, womit uralte, fundamentale Rechtsprinzipien der Habeas Corpus Akte liquidiert bleiben, weil die Betroffenen nicht einmal eine Anklage und rechtliches Gehör sowie ein ordentliches Rechtsverfahren erhalten. Auch die durch Edward Snowden aufgedeckte flächendeckende geheime globale Überwachung durch die National Security Agency (NSA), unter weitgehender Missachtung bürgerlicher Grundrechte, unterstreicht die unglaubliche Macht und die Gefahren entfesselter staatlicher Sicherheitsapparate in Krisen, wobei die in der Krise ausgeweiteten Befugnisse von Sicherheitsapparaten nach Abklingen der Krisenwahrnehmungen meist nicht oder nur unwesentlich wieder zurückgefahren werden (vgl. Hirsch, 2020).
Seit 2020 wurden auch hierzulande infolge der ‚Corona-Krise‘ außerordentliche Exekutivrechte angeordnet und durchgesetzt, d.h. die Bundesregierung und die Regierungen der Länder haben sehr weitreichende, außerordentliche Kompetenzen, womit — bis dato kaum vorstellbare — Einschränkungen des öffentlichen Lebens und von Grundrechten als sog. Shutdown‘ oder ‚Lockdown‘ durchgesetzt wurden. Dazu zeigen diverse ‚Überreaktionen‘ der Polizei, wohin es führt, wenn sich Exekutivorgane im Ausnahmezustand von rechtlichen Beschränkungen frei fühlen (vgl. Hirsch, 2020). Zwar wurden die außerordentlichen Exekutivkompetenzen formal vom Parlament beschlossen, jedoch sehen juristische Fachleute aufgrund fehlender Präzisierungen und der Offenheit als Generalklausel gravierende rechtsstaatliche Probleme sowie eine ‚Selbstentmachtung des Parlaments‘, wobei die Gesetzgebung zudem unter hohem öffentlichen Druck und Zeitdruck zustande kam. Dabei wurde der Ausnahmezustand gar nicht auf die 1968 (gegen Massenproteste) durchgesetzten Notstandsregelungen des Grundgesetzes gestützt, er gründet auf dem einfachgesetzlichen Infektionsschutzgesetz, wodurch der Bundesgesundheitsminister (sowie die Länderregierungen) ermächtigt wurden, per Verordnung weitreichende Grundrechtseinschränkungen zu verfügen und wobei neuerdings eine Art Automatismus der ‚Bundes-Notbremse‘ eingefügt wurde, wonach ab gewissen Melderaten positiver Testergebnisse pro Bevölkerung und Zeitraum (sog. Inzidenzwerte) Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Betriebsschließungen unmittelbar im ganzen Land verfügt wurden (vgl. kritisch dazu z.B. Kluckert).
Zusammengefasst bringt Hirsch die ‚Corona-Maßnahmen‘ so auf den Punkt: „Die Verfassung wurde einfach nicht beachtet“ und: „Heraus kam ein autoritärer Staat unter Beibehaltung eines institutionell-demokratischen Beiwerks“ (Hirsch, 2020). Denn die Exekutivermächtigung kam zudem in einem für Krisensituationen typischen Eilverfahren zustande, ohne nähere Prüfung der Notwendigkeit, Eignung und Verhältnismäßigkeit, ohne eine umfassende Expertenanhörung und ohne eine kontroverse parlamentarische Diskussion, insbesondere zu Beginn der Krise, als alle Parteien im Bundestag zustimmten oder sich enthielten: „Das Parlament ordnete sich überstürzt der Regierung unter und degradierte sich damit gegenüber der Exekutive zu einer zweitrangigen Institution. Die Parlamentarier vergaßen ihre Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Anstatt sich als Ort der Debatte, Beratung und des Austauschs zu begreifen, begnügte sich das Parlament mit dem Status einer gegenzeichnenden Behörde (Merkel, 2020, S. 448). Ergänzend muss allerdings betont werden, dass immerhin einige Gerichte vereinzelte Maßnahmen der Exekutive wieder aufhoben, vor allem mit der zunehmenden Zeit und angesichts sinkender Infektionszahlen, allerdings blieb die Bereitschaft zur grundsätzlichen Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit doch recht gering, weil der Exekutive in solchen Fällen grundsätzlich ein großer Entscheidungsspielraum zugestanden wird (vgl. Knieps, 2020; Kämmerer & Jischkowski, 2020).
Dazu kommt nicht zuletzt, dass auch beim Volk selbst eine weit überwiegende Unterstützung der Regierung und des Ausnahmezustands verzeichnet wurde, weshalb im Folgenden die Hintergründe der aktuellen Krisenpolitik und des Ausnahmezustands in einem größeren Zusammenhang einer schon länger andauernden Tendenz zur technokratischen Krisenpolitik beleuchtet werden sollen. Tatsächlich ist die Lage in Krisen kompliziert oder vertrackt, wobei es angesichts der von Agamben aufgezeigten Tendenz zur ‚Normalisierung‘ oder der Nutzung des Ausnahmezustands in einem weiter bestehenden demokratischen Rechtsstaat um die Gefahr der schleichenden Aushöhlung oder Erosion von Demokratie und Rechtsstaat geht, ohne dass offen oder insgesamt ein Umkippen in eine Diktatur ersichtlich wäre. Damit stellt sich die Frage nach dem Grad oder der Reichweite der krisenbedingten Ausweitung und Konzentration von Exekutivkompetenzen und inwiefern die demokratische, rechtsstaatliche Kontrolle noch funktioniert oder außer Kraft gesetzt ist. Insbesondere stellt sich aber die Frage nach den Begründungen und der Legitimation der Ausweitung von Exekutivkompetenzen mit den Hintergründen der enormen Folgebereitschaft und Duldsamkeit der Bürgerinnen und Bürger angesichts von ‚Krisenwahrnehmungen‘ als Problem der demokratischen politischen Kultur. Dabei zeigt zunächst der folgende Blick zurück, dass Krisenwahrnehmungen und Krisenpolitik bereits seit längerem eine zentrale Rolle in den ‚real existierenden‘ Demokratien und Wohlfahrtsstaaten einnehmen, worauf der aktuelle Ausnahmezustand aufbaut. Hierbei spielen wiederum wissenschaftliche ‚Krisentheorien‘ und damit verbundene ‚Krisendiskurse‘ sowie Medien eine zentrale Rolle der Legitimationsbeschaffung für eine scheinbar ‚alternativlose‘, technokratisch-autoritäre Politik.
Hintergründe von Krisenwahrnehmungen & Krisenpolitik
Krisenbegriff, Krisenwissenschaften und Krisentheorien
Den heute üblichen Krisenbegriff hat zunächst die Medizin geprägt und den aus dem Griechischen stammenden Begriff Krisis (für Unterscheidung, Meinung, Urteil oder Entscheidung) seit dem 14. Jahrhundert zur Frage der Entscheidung über Leben oder Tod zugespitzt, was bis zum 19. Jahrhundert ins Militärische und in Staatstheorien überging, zumal der Staat oft in Analogie zum menschlichen Körper aufgefasst wurde (vgl. Graf, 2020). Im 20. Jahrhundert breiteten sich dann gesellschaftliche Krisenwahrnehmungen quasi endemisch aus und es gibt kaum noch einen Bereich, in dem nicht schwere soziale Probleme oder Krisen ausgemacht wurden: Von A wie Arbeit bis Z wie Zusammenhalt, alles scheint in der Krise, ob Wirtschaft und Finanzen, Demokratie und Staat, Bevölkerung, Familie sowie nicht zuletzt Natur und Klima (vgl. Graf, 2020).
Als einer der ersten und wirkmächtigsten ‚Krisentheoretiker‘ vertrat Karl Marx die These einer zwangsläufig krisenhaften Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, womit er wesentlich zu Krisenwahrnehmungen im 20. Jahrhundert beitrug. Aber auch ohne Marx waren und sind soziale Probleme und Krisen für die Sozialwissenschaft quasi tägliches Brot oder ihr ‚Kerngeschäft‘, so dass z.B. von der Soziologie als ‚Krisenwissenschaft‘ gesprochen wurde (vgl. Sewing, 1983). Dabei lässt sich ein Soziales Problem ganz allgemein als Differenz zwischen einem gewünschten ‚Soll‘ und dem realen ‚Ist‘ definieren, d.h. die Sozialwissenschaften (wie auch Medien) überwachen soziale Normen und deren Einhaltung oder Abweichungen in ‚modernen‘, sich dynamisch wandelnden, anonymen, marktgesteuerten, arbeitsteiligen Gesellschaften, gegen die u.a. von Durkheim aufgezeigten Gefahren der Anomie‘ oder Desintegration.
Neben der Diagnose und Analyse des Hintergrunds sozialer Probleme und Krisen werden von den sozialwissenschaftlichen Krisentheorien in der Regel zugleich vermeintlich hilfreiche Therapien oder Rezepte angeboten, wie z.B. von Marx & Engels der Kommunismus, der in einem ‚letzten Gefecht‘ erkämpft werden sollte, um die ungleiche Kapitalakkumulation sowie krisenproduzierende Klassenkämpfe zu überwinden und eine klassenlose, endgültig friedliche Gesellschaft herzustellen. Bekanntlich kam es anders, die bis heute anhaltenden Kämpfe (auch wenn nicht alle als Klassenkämpfe interpretiert werden können) waren und sind sehr blutig und das Projekt Kommunismus entwickelte sich weniger paradiesisch als erhofft, bis dieser sogar seit 1989/90 selbst in einen kritischen oder letalen Zustand überging. Ungeachtet dessen war und ist es aber nicht nur bei Marx eine typische intellektuelle Strategie, die komplexe Wirklichkeit in Krisenszenarien zu dramatisieren, um soziale Probleme oder Krisen zu identifizieren, zu mahnen und zu kollektiven Handlungen zu motivieren (vgl. Graf, 2020, S. 33).
Wenn ‚Krisen‘ diagnostiziert oder diskutiert werden, die gesamtgesellschaftlich und politisch relevant erscheinen, verbreiten sich angesichts der damit assoziierten existenzbedrohenden Fragen von Leben und Tod grundsätzlich Gefühle und Wahrnehmungen von Unsicherheit und Angst, es entsteht ein enormer Zeit- und Handlungsdruck, d.h. eine Konzentration und Verengung des Blicks auf das existentiell Notwendige, Wesentliche und Evidente, was aber auch bis zu panischen Reaktionen reicht. Entsprechend erfahren in Krisensituationen warnende Akteure und bedrohliche Informationen zwangsläufig mehr öffentliche Aufmerksamkeit, was auch ein Grund für die Zunahme der mahnenden Kassandrarufe darstellt. Inwieweit die von den modernen wissenschaftlichen und intellektuellen ‚Auguren‘ und ‚Propheten‘ aufgezeigten Krisenszenarien dann aber tatsächlich eintreten und ob die verordneten ‚Rezepte‘ oder ‚bitteren Pillen‘ am Ende nötig oder hilfreich waren, ist ex post meist nicht mehr objektiv zu bewerten und interessiert auch nur noch als wissenschaftliche und historische Frage. So zeigte sich z.B. auch der Kapitalismus trotz aller Prophezeiungen und Krisen zumindest bisher als äußerst robust und hat sich seit 1990 (nach der Transformation ‚real-sozialistischer‘ Konkurrenzregime) sogar mehr oder weniger global durchgesetzt, immer weitere Regionen und Bereiche der Kapital- und Marktlogik unterwerfen und aus jeder Krise und durch fundamentale Kritik gestärkt hervorgehend (vgl. Boltanski & Chiapello, 2001). Fehleinschätzungen wissenschaftlicher Krisenanalysen lassen sich aber beliebig anführen. Z.B. kursieren seit Jahrzehnten erschreckende Prognosen einer ‚demographischen Krise‘ als Alterung und Rückgang der Bevölkerung, womit u.a. der Ab- und Umbau der Rentenversicherung seit 2002 begründet wurde. Indes stieg entgegen aller Prognosen bis heute die Zahl der Bevölkerung aufgrund der völlig unterschätzten Zuwanderung immer weiter an; das Geschäft mit dem ‚demographischen Wandel (oder Schwindel)‘ gedeiht aber unverdrossen weiter (inzwischen liegt beim Statistischen Bundesamt die 14. koordinierte Bevölkerungsprognose vor, ohne dass irgendein Bezug zu bisherigen ‚Fehlprognosen‘ genommen würde oder dass dieses öffentlich breit diskutiert wird). Wie gewagt solche weitreichenden Krisen- und Zukunftsszenarien sind, offenbart ein einfaches Gedankenexperiment zu den demographischen Prognosen: Würde die gängige ‚Vorausberechnung‘ der Bevölkerungsentwicklung um gut 100 Jahre zurückverlegt und wären damals ähnliche Szenarien bis 1950 oder 1960 statt 2050/60 angestellt worden, wären diese schon durch den 1. Weltkrieg ad absurdum geführt worden. Das heißt, dass solche Szenarien selbst als soziales Phänomen analysiert werden sollten und als wissenschaftlich-technokratische Hybris, zumal sie politisch meist eine fragwürdige Rolle spielen und sich Wissenschaft, Politikberatung und ökonomische Interessen zu einer äußerst trüben Brühe vermischen.
Neben der wachsenden sozialen und politischen Aufmerksamkeit für Soziale Probleme, Risiken und Krisen haben aber, v.a. infolge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und Wohlstands, technisch induzierte Risiken und daraus erwachsende Anforderungen des ‚Risikomanagemetns‘ durchaus zugenommen, wobei diese, z.B. bei der Atomenergie, regional wie zeitlich zunehmend entgrenzt und kaum noch beherrschbar scheinen (so zeigen u.a. Katastrophen wie Tschernobyl, Fukushima oder das Problem des ewig strahlenden und zu überwachenden Atommülls), weshalb Ulrich Beck (1993) eine ‚Risikogesellschaft‚ konstatierte. Mit der Ausweitung von Risikotechnologien einerseits, wachsenden Sicherheitstechniken und Möglichkeiten des Risikomanagements andererseits stelllen sich aber politisch brisante, „neuartige Herausforderungen an die Demokratie“, so Ulrich Beck, mit der Gefahr eines ‚legitimen Totalitarismus der Gefahrenabwehr‘, als wissenschaftlich-technischer Autoritarismus, weil es nicht einfach ist, angesichts sich abzeichnender globaler Gefahren überhaupt noch politische Alternativen aufzuzeigen (Beck, 1993, S. 106) Bereits 1977 hatte Robert Jungk in seinem Buch ‚Der Atomstaat‚ auf solche gesellschaftlichen und politischen Folgen der Atomenergie hingewiesen, die er neben den unmittelbaren Gefahren der Radioaktivität vor allem in der enormen Ausweitung der Sicherheitsapparate und in Einbußen bürgerlicher Freiheiten sah. In einer ähnlichen Stoßrichtung, ja noch weitergehender, sieht Furedi eine Ausweitung von Ängsten in einem Jahrhundert oder einer „Kultur der Angst„, die insbesondere auch den persönlichen, alltäglichen Bereich ergreift:
„Fear is not simply associated with high-profile catastrophic threats such as terrorist attacks, global warming, AIDS or a potential flu pandemic; rather, as many academics have pointed out, there are also the ‘quiet fears’ of everyday life. … Today’s free-floating fear is sustained by a culture that is anxious about change and uncertainty, and which continually anticipates the worst possible outcome. This ‘culture of fear’, as I and others have called it, tends to see human experience and endeavour as a potential risk to our safety. Consequently, every conceivable experience has been transformed into a risk to be managed.“
(Furedi, 2007).
Ein Hintergrund der zunehmenden Wahrnehmung von Risiken, Unsicherheit und Angst sind aber auch die enorm gestiegenen Erwartungen an die Sicherheit, Wohlfahrt und Gesundheit oder das Glück von Bürgerinnen und Bürgern, d.h mit dem wachsenden Wohlstand und Möglichkeiten wuchs auch eine angsterzeugende Fallhöhe und Sorge um Risiken, Sicherheit oder Wohlfahrtsverluste. Im 20. Jahrhundert wuchsen nicht nur die gesellschaftlich produzierten Risiken, sondern auch die technischen wie ökonomischen sowie politischen Möglichkeiten zur Gewährleistung von Sicherheit und Wohlfahrt, wobei vor allem der ‚Sozial- oder Wohlfahrtsstaat‚ zum allgegenwärtigen Krisenmanager wurde, der als kapitalistischer Staat zugleich (direkt oder indirekt) auch ein Krisen- und Angsterzeuger ist.
Der kapitalistische ‚Wohlfahrtsstaat‘ als Krisenmanager und Krisenerzeuger
Der Wohlfahrtsstaat hat vor allem im 20. Jahrhundert nicht nur enorme militärische und polizeiliche Sicherheitsapparate ausgebildet, sondern darüber hinaus ein dichtes Netz sichernder, fürsorglicher, vorsorgender Versicherungen und Institutionen zur Gewährleistung sozialer Sicherheit, Erziehung und Bildung usw., quasi von der Wiege bis zur Bahre (vgl. Ewald, 1998). Der Wohlfahrtsstaat ‚managed‘ die wachsenden technischen wie sozialen und politischen Risiken der kapitalistischen Industriegesellschaft, wobei er als ‚Klassenkompromiss‘ nicht nur die kapitalistische ‚Bestie‘ einhegt oder ‚bändigt‘ (wie es die vorherrschende, funktionalistische, Lesart ist), sondern sie überhaupt erst züchtet (siehe hier ausführlich). Jedenfalls bleiben bis heute anhaltende soziale Probleme, Risiken und Krisenherde, die zumindest zu einem großen Teil als direkte oder mittelbare Folge sozialer Ungleichheit und Klassenkämpfe in kapitalistischen Gesellschaften interpretiert werden können und die eine ständige Quelle von Unsicherheit und Angst darstellen. In diesem Zusammenhang wiesen Liberal-Konservative schon lange auf die Gefahr der ‚Selbstüberforderung‘ oder selbst erzeugter Krisen des Wohlfahrtsstaats durch eine ‚Inflation‘ von Ansprüchen hin, für den es keine Grenzen oder ‚Stopregeln‘ gebe (Luhmann, 1981).
Die grundsätzlich angst- und kriseninduzierende Tendenz kapitalistischer Gesellschaften unterstreichen z.B. Analysen der Hintergründe des 1. Weltkriegs, so dass klassische marxistisch–imperialistische Theorien durchaus von empirischen Fakten gestützt werden (vgl. Hauner, Milanovic & Naidu, 2017): So war bei allen kriegführenden Ländern eine extreme soziale Ungleichheit zu verzeichnen, d.h. auf der einen Seite mangelnder Konsum, auf der anderen Seite ein Überangebot an konkurrierendem Kapital, das händeringend nach Verwertungsmöglichkeiten suchte (als Überakkumulations- oder Unterkonsumptionskrise). Dieses evozierte oder beschleunigte militärische Eroberungen und Investitionen in exterritoriale ‚Kolonien‘, wo höhere und leichtere Profite als im Inland winkten, zumal diese durch militärische Interventionen abgesichert waren. Dieses führte aber zum verschärften Wettbewerb und zu Feindseligkeiten zwischen etablierten wie aufstrebenden Kolonial- und Großmächten und einer aufgeheizten Militarisierung, womit der Kriegsausbruch zumindest wahrscheinlich wurde, auch wenn noch andere kriegstreibende Faktoren und Ursachen im Spiel waren (vgl. ebd.). Bis heute zeigen sich die krisen- und konfliktträchtigen Züge der kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft (Ungleichheit, Unterkonsumption, Überakkumulation und Militarisierung), so dass mehr als fraglich ist, inwiefern die immer größer werdenden militärischen Gewaltarsenale, welche allen voran und mit großem Abstand die USA angehäuft haben (vgl. SIPRI), tatsächlich stabilisierend und friedenssichernd wirken (wie meist behauptet wird). So hat jedenfalls v.a. die USA als hegemoniale kapitalistische Leitmacht immer wieder eine Strategie des ‚bomb-and-build‘ verfolgt, zuletzt im sog. ‚Krieg gegen den Terror‘ und im Irak-Krieg seit 2003, so dass die These eines inneren Zusammenhangs zwischen global capitalism, global war and global crisis (vgl. Bieler & Morton, 2018, 250 ff.) nicht leicht von der Hand zu weisen ist. Bei mehr oder weniger allen US-Interventionen waren hegemoniale Machtinteressen und ökonomische Kalküle zumindest mit im Spiel, wobei sich die oft zur Rechtfertigung vorrangig angeführten Ziele der Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten als ‚humanitäre Interventionen‘ bei der näheren Betrachtung nur insofern als stichhaltig erwiesen, indem diese Ziele auch den hegemonialen und ökonomischen Interessen dienten; umgekehrt blieben entschiedene ‚humanitäre Interventionen‘ in der Regel immer dann aus, wenn keine gravierenden Machtinteressen im Spiel waren (vgl. Wood, 2019).
Gegen die These der kriseninduzierenden Politik kapitalistischer Wohlfahrtsstaaten wird häufig eingewandt, dass diese als Demokratien in der Regel doch grundsätzlich friedfertig und sozial seien, insbesondere gegenüber anderen Demokratien (Hegre, 2014). Die hier nicht näher auszuführende These des ‚democratic oder capitalistic peace‘ übersieht aber, dass es zahlreiche und gravierende Ausnahmen gibt, z.B. offene oder verdeckte militärische Interventionen von Seiten der USA im sog. ‚kalten Krieg‘, die relativ unabhängig vom Regimestatus der betroffenen Staaten erfolgten (vgl. O'Rourke, 2018). Dazu kommt, dass auch die ‚real existierenden‘ Demokratien oft nicht gut funktionieren und mehr oder weniger unvollständig oder in einem mehr oder weniger defekten Zustand sind, wie z.B. wiederum (aber nicht nur) in den USA (vgl. Hobson, 2017). In diesem Zusammenhang müssen nicht zuletzt Hunger und Armut berücksichtigt werden, was in hohem Maße konfliktfördernd und angsteinflößend ist (vgl. Braithwaite, Dasandi & Hudson, 2016; Tollefsen, 2020; Nafziger & Auvinen, 2002; Stewart, 2002).
Medien und die Wahrnehmung von Angst und Krisen
In Krisen und im Ausnahmezustand gehören Gefühle der Bedrohung und Angst zu den vorrangigen Motiven, dass sich Bürgerinnen und Bürger intuitiv gemeinsam hinter der Regierung oder Fahne gegen bedrohliche Feinde sammeln (‚rally ‚round the flag‘) und bereit sind, der Exekutive weitreichende Kompetenzen einzuräumen sowie große Einschränkungen von Freiheit oder Entbehrungen hinzunehmen. Für die grassierende, oft übertriebene, Wahrnehmung von Risiken und Angst spielen in modernen Gesellschaften vor allem Medien (insbesondere bewegte Bilder des Fernsehens) eine wesentliche Rolle, wobei Analysen zeigen, dass Ängste und Gefühle von Unsicherheit gegenüber Kriminalität, Terror usw. um so größer und verzerrter ausfallen, je mehr Menschen Medien und vor allem Fernsehen konsumieren (insgesamt zeigen sich zudem Jüngere und Frauen ängstlicher als Ältere und Männer) (vgl. Nellis & Savage, 2012). Dem liegt eine wettbewerbliche Ökonomie und eine Logik des Kampfs um Aufmkerksamkeit zugrunde, so dass sich Medien zwangsläufig weit überproportional auf negative, emotional bewegende und ’spektakuläre‘ Vorkommnisse wie Katatsrophen, extreme Kriminalfälle und Terroranschläge wie 9/11 oder eben aktuell Covid-19 fokussieren. Entsprechend berichten Medien in ‚Krisensituationen‘ besonders intensiv und stark überproportional, mithilfe dramatischer, zugespitzter Bilder und Storys, oft anhand einprägsamer, rührender Einzelschicksale. Die besonders ‚einschlägigen‘ Bilder und Storys sind dann meist in allen Kanälen in schier endlos anmutender Wiederholung zu sehen, dem sich kaum jemand entziehen kann, weil in Situationen wie ‚9/11‘ oder der ‚Corona-Krise‘ in den Medien sowieso kaum noch ein anderes Thema in den Nachrichten und im gesamten nicht fiktionalen Programm vorkommt (vgl. von Rossum, 2020). Z.B. erhielten in der ‚Corona-Krise‘ extreme Vorkommnisse und Bilder wie der nächtliche Abtransport von Leichen durch das Militär in Bergamo (Italien) eine die öffentliche Wahrnehmung extrem prägende Bedeutung.
D.h. es werden in Krisen medial stark verzerrte, gefilterte und konstruierte Sichtweisen der Wirklichkeit produziert und ‚Narrative‘; ‚Konstruktionen‘ sowie ‚Rahmungen‘ oder ‚Frames‘ hergestellt und bedient, was in der Regel unbewusst und aus der Logik oder den Strukturen des medialen Feldes resultiert. Auch wenn die bewusste Manipulation eher selten sein dürfte, kann diese aber auch nicht ausgeschlossen werden, z.B. zur Förderung von Aufmerksamkeit, Anerkennung oder Karriere. Entsprechend der skizzierten Logik des Wettbewerbs um Aufmerksamkeit erfahren in Krisen zudem warnende Stimmen von Politikerinnen und Expertinnen eher Resonanz, während abwägende oder beschwichtigende Akteure sowie jene, die gegen den medialen Mainstream argumentieren, eher ausgeblendet, argwöhnisch beurteilt oder abgewertet werden. Dazu kommt, dass auch alltägliche Berichte über Covid-19 oft ganz selbstverständlich mit Bildern aus Intensivstationen illustriert und damit zugespitzt wurden, weil auf diese Weise die Tatsache unterschlagen und konterkariert wird, dass ein Großteil der positiv auf Covid-19 Gestesteten ohne Krankheitssymptome bleibt (die dennoch als ‚Infizierte‘ oder ‚Erkrankte‘ berichtet werden), und dass auch die Mehrzahl der an Covid-19 Erkrankten in Krankenhäusern auf normalen Stationen untergebracht ist (Ioannidis, 2020). Aufschlussreich ist auch die paradox anmutende Bezeichnung ‚asymptomatisch Erkrankte‘, wobei indes schon der bekannte, extrem weite und anspruchsvolle Begriff der Gesundheit der WHO mit dem Bezug auf einen (kaum jemals zu erreichenden) Idealzustand „vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ eine expansive Problemwahrnehmung oder Pathologisierung eröffnet, weil schon die kleinste Abweichung von diesem Ideal als ‚problematisch‘ begriffen werden kann, woraus sich ein schier grenzenloser, insbesondere präventiver, professioneller und politischer Interventionsbedarf begründen lässt.
Infolge der medial verzerrten Wahrnehmung und der andauernden öffentlichen Krisendiskurse kann z.B. in den USA seit ‚9/11‘ beobachtet werden, dass sich eine völlig übertrieben erscheinende Angst vor Terroranschlägen verbreitete. So zeigten sich in Umfragen in den USA regelmäßig knapp die Hälfte der Befragten besorgt, dass sie selbst oder jemand von ihrer Familie ein Opfer von Terroranschlägen werden könnten (direkt nach ‚9/11‘ waren es sogar fast 60%, vgl. Gallup-Institut). Die tatsächliche Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, blieb aber trotz 9/11 äußerst gering: Denn in den USA gab es von 1995 bis 2019 (unter Einbezug von 9/11) pro Jahr im Mittel 151 Tote infolge von Terroranschlägen, ohne 9/11 waren es 24 Terroropfer pro Jahr, bei ca. 318 Mio. Bürgerinnen und Bürgern (vgl. Global Terrorism Database). Ähnlich hat sich seit März 2020 rasch in weiten Teilen der Welt eine große Angst vor der Ansteckung durch Coronaviren verbreitet, in den USA zeigten sich in Umfragen 57% sehr oder ziemlich besorgt, angesteckt zu werden (so das Gallup-Institut im Dez. 2020). Hierzulande äußerte auch fast die Hälfte der Menschen (44%) sehr große oder große Sorgen vor einer Ansteckung mit Sars-Cov-2 (Infratest-Dimap für ARD-Deutschlandtrend vom Nov. 2020). Dabei wurden in Deutschland laut offiziellen Statistiken des staatlichen Robert Koch Instituts (RKI) bisher ca. 3,4 Mio. Menschen positiv auf Sars-Cov-2 gestestet (3. Mai 2021), d.h. 4% von ca. 83 Mio. Bürgerinnen und Bürgern (vgl. Statistisches Bundesamt), wobei ein positiver Test aber noch nicht bedeutet, dass man tatsächlich erkrankt oder infektiös ist, weil oft nur eine sehr geringe, praktisch unerhebliche, nicht vermehrungsfähige Virenlast vorliegt (vgl. Jefferson, Heneghan, Spencer & Brassey, 2020). Gestorben sind mit positivem Test auf Sars-Cov-2 in Deutschland gut 83 Tsd. Menschen (Stand: 3. Mai 2021), d.h. ca. 0,1% der Bevölkerung. Zwar werden sich diese Zahlen noch erhöhen, jedoch legen auch internationale Meta-Analysen eine Infection Fatality Rate von max. ca. 0,2-0,4% nahe; dazu kommt, dass das Medianalter der Verstorbenen bei über 80 Jahren liegt, so dass angesichts der häufigen ‚Co-Morbidität‘ bei Hochaltrigen fraglich ist, inwiefern Covid-19 ursächlich für das Ableben war (vgl. Ioannidis, 2020). Jedenfalls liegt die Sterblichkeit von Covid-19 weit unter den ersten alarmistischen Szenarien und weit weg von der von Wissenschaft, Politik und Medien oft als Warnung bemühten Spanischen Grippe von 1919 (damals starben schätzungsweise ca. 50 Mio. Menschen, an oder mit Corona wurden bis zum 3. Mai 2021 weltweit ca. 3,19 Mio. Tote geschätzt vgl. www.ourworldindata.org, wobei jeweils eine große Unsicherheit bzgl. der Zuverlässigkeit dieser Daten besteht; vgl. Ioannidis, Cripps & Tanner, 2020). Entsprechend überschätzten z.B. im Vereinigten Königreich die Bürgerinnen und Bürger die Sterblichkeit an COVID um ca. das Hundertfache, während normale, medial weniger präsente, Risiken weithin unterschätzt werden (so der Beitrag von im Telegraph vom 20.8.2020).
Nationaler Zusammenhalt oder ‚Rally ‚round the Flag‘ in der Krise
Mit den skizzierten Krisenwahrnehmungen wächst bei den Bürgerinnen und Bürgern intuitiv die Bereitschaft, wie auch imer geartete staatliche Sicherheitsapparate (sowohl die eher fürsorglichen wie auch eher regulierende oder disziplinierende) auszubauen und diesen immer mehr Rechte einzuräumen, d.h. Freiheitsrechte nicht nur temporär zugunsten von Sicherheitsinteressen zu opfern, bis hin zur Entwicklung omnipräsenter, ‚präzeptoraler Sicherheitsstaaten‘. Z.B. bejahte im Jan. 2002 in den USA fast die Hälfte der Befragten (47%), dass die Regierung alle notwendigen Schritte unternehmen sollte, um terroristische Anschläge zu verhindern, selbst wenn dadurch die eigenen Grund- und Freiheitsrechte verletzt würden; zudem unterstützten im Jahr 2005 über 65% der Befragten die gezielte Ermordung von Terroristen.
Mit der Verbreitung von Angst und Krisenwahrnehmungen enstehen zugleich Impulse der nationalen Sammlung und eine enorme Bereitschaft zur Unterstützung der Regierung (sog. ‚rally ‚round the flag‘), gepaart mit aufwallenden feindseligen Haltungen gegenüber äußeren wie inneren Feinden (vgl. Feinstein, 2020). Entsprechend war auch in der Corona-Krise der Impuls zur Unterstützung des Ausnahmezustands und der amtierenden Regierungen in der Bevölkerung immens, trotz der massiven Einschränkungen von Grundrechten, sowohl in den USA,, wie auch in Deutschland: Hierzulande hielten laut Umfragen von Infratest-Dimap auch im Januar 2021 über die Hälfte (53%) der Antwortenden die verhängten Maßnahmen für angemessen, 30% gingen diese nicht weit genug. Dazu kommt eine in der ‚Corona-Krise‘ stark gewachsene Unterstützung der Kanzlerin und der regierenden CDU/CSU (weniger der SPD als quasi nur im Sog mitschwimmender ‚Juniorpartner‘), wobei vor allem die Popularität des besonders streng auftretenden Bayerischen Ministerpräsidenten Söder (CSU) ungeahnte Höhenflüge zeigte (Infratest-Dimap a.a.O.). Ähnlich zeigen Analysen zu den französischen Kommunalwahlen und der je nach Region unterschiedlichen Lockdown-Politik eine große Unterstützung von Amtsinhaberinnen in der Krise (‚rally ‚round the flag‘) und dass vor allem Härte zeigende Politikerinnen populär sind, zudem steigt die Wahlbeteiligung mit der Härte des Lockdowns.
Den Effekten der ’nationalen Sammlung‘ in Krisen können sich auch Medien nicht entziehen, zumal enge Netzwerke von Eliten aus Medien und Politik existieren, die oft auffällig ähnliche Ansichten teilen, insbesondere, wenn es um die ‚großen‘ Fragen, wie z.B. Krieg und Frieden oder Freund und Feind geht (vgl. Krüger, 2015; vgl. auch den Beitrag von Klöckner bei telepolis am 22.10.2019). Im Übrigen setzen auch Regierungen ihrerseits gerade in Krisen mediale Strategien und ‚Spin Doctors‘ ein zum Agenda-Setting oder ‚Framing‘, bis hin zu Inszenierungen, wie z.B. der legendäre Auftritt von Ex-US-Außenminister Colin Powell vor der UN im Februar 2003, der mithilfe manipulierter Dokumente über vermeintliche ‚Massenvernichtungswaffen‘ des Irak unter Saddam Hussein einen Einmarsch in den Irak legitimierte — eine eindeuitge ‚Verschwörung‘ im klassischen Sinn und eine ‚Story‘, die weltweit verbreitet wurde, bis erst lange nach dem Krieg der ‚Fake‘ entlarvt wurde. Auch ein durchgesickertes Strategiepapier zu Covid-19 aus dem deutschen Innenministerium (vgl. Hofbauer & Kraft, 2020, Vorwort, Fußnote 1) legt die gezielte Förderung von Angst zur Durchsetzung ‚harter‘ politischer Maßnahmen nahe, wobei solche Überlegungen zumindest angestellt und diskutiert wurden, auch wenn unklar bleibt, wie relevant diese für das politische Handeln wirklich waren.
Dessen ungeachtet erscheint die Akzeptanz der Freiheitseinschränkungen und die Folgebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger in der Covid-19-Krise frappierend, angesichts des monatelangen ‚Lockdowns‘ und vielfacher, nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch gesundheitlicher wie sozialer ‚Kollateralschäden‘, die noch gar nicht genau abzuschätzen sind. Zusammenfassend und pointiert sieht Wolfgang Merkel in der Covid-19-Krise deshalb sogar eine Tendenz zur Wiedererstarken eines antidemokratischen, autoritären Untertanengeists unter dem „Signum des Vernünftigen“, d.h. eine Art autoritäre Technokratie:
„In der Covid-19-Krise erlebten wir die Wiedergeburt des Untertanengeistes unter dem Signum des Vernünftigen. Sichtbar wurde ein demokratisches Paradoxon: Je tiefer die Eingriffe in die Grundrechte der Bürger, desto größer war die Zustimmung derjenigen, denen die Grundrechte entzogen wurden. … Die vermeintliche physische Sicherheit war den Bürgern wichtiger als individuelle Freiheit.“
(Merkel, 2020)
Bevor diese Tendenz zur autoritären Technokratie näher betrachtet werden soll, wird im Folgenden allgemein die Legitimationsmuster von Ausnahmezuständen näher betrachtet.
Politische Legitimation des Ausnahmezustands
Krisen und der ggf. explizit ausgerufene politische Ausnahmezustand entziehen sich per se einer genauen Definition und rechtlichen Regelung oder Kontrolle, Not kennt tendenziell kein Gebot, so dass im Ausnahmezustand zwangsläufig Verfassungen und andere grundlegenden Regelungen mehr oder weniger missachtet oder außer Kraft gesetzt werden, sofern es die tatsächliche oder auch nur wahrgenommene oder konstruierte Notwendigkeit, den Staat und Ordnung zu sichern, nahelegt. Carl Schmitt hat mit dem berühmtem Leitsatz „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (2009, S. 13) die Tendenz zur dezisionistischen Diktatur im Ausnahmezustand auf den Punkt gebracht (von ihm allerdings positiv gedeutet, weil gegen den kritisierten liberalen Staat gerichtet). Dabei muten Krisen und der dadurch ausgelöste politische Ausnahmezustand grundsätzlich ebenso unübersichtlich wie auch paradox an, wenn die in der Krise entfesselten, oft willkürlich agierenden Exekutiv- und Sicherheitsapparate Freiheit und Recht einschränken oder außer Kraft setzen, um dieses vermeintlich zu schützen.
Grundsätzlich sind Krisensituationen die Stunde der Exekutive, auf die sich die politische Macht fokussiert, so dass ein ‚window of opportunity‘ für Tatkräftige und ‚Führungsstarke‘ entsteht, auch wenn oder gerade weil Gesetze oder die Verfassung außer Acht bleiben, weil dieses die Stärke, Entschlossenheit und Tatkraft der Regierenden noch unterstreicht. Politisch bleibt in Krisenituationen scheinbar nicht die Zeit für ausführliche und kontroverse Erörterungen, das Abwägen von Bedenken und den Ausgleich von Interessen, vielmehr muss rasch und entschlossen gehandelt werden. In Krisen werden deshalb von den Anführenden mutige Tatkraft und Entscheidungsfreude erwartet und belohnt, so dass allenfalls retrospektiv Analysen von Problemlagen, Verlauf und Hintergründen von Krisen folgen. Dieses gilt, obwohl dann hinterher oft deutlich wird, dass Krisen und das Instrument der Krisenpolitik auch propagandistisch oder strategisch konstruiert und genutzt wurden — wie z.B. von US-Präsident Bush nach ‚9/11‘.Das ‚window of opportunity‘ gilt aber auch für Akteure anderer Felder wie Medien oder Wissenschaft, die ebenso von Krisen profitieren und aufsteigen können. Die Regierung soll in Krisen jedenfalls straff und effizient durch oder aus der Krise führen, d.h. der parlamentarische, oft ohnehin als kleinlich, egoistisch oder mühselig und langwierig abgewertete, Parteienstreit, der nicht das ‚Große Ganze‘ im Blick hat, soll ruhen oder zurücktreten, alle sollen ‚an einem Strang ziehen‘, um die Krise gemeinsam zu überwinden. In existentiellen Krisen, im Krieg oder Ausnahmezustand werden Einigkeit, Zusammenhalt, Gehorsam und Tatkraft im Sinne der Führung erwartet, um den Feind rasch zu besiegen (vgl. Agamben, 2004; Lemke, 2017). Nicht zuletzt ist deshalb auch eine rigide Anwendung des ‚Freund-Feind-Schemas‘ typisch für politische Krisen und Ausnahmezustände, wobei die Feinde in der Regel von außen kommen oder als nicht zur Gesellschaft zugehörig betrachtet werden, wie etwa Terroristen.
Förster/Lemke (2016) fassen basierend auf einer historischen Analyse von Fallbeispielen aus den USA die folgenden typischen Legitimationsmuster von Ausnahmezuständen zusammen:
- Äußerlichkeit,
- Freund-Feind-Denken,
- Effizienz und
- Notwendigkeit.
Aufgrund der skizzierten Logik wird verständlich, warum die seit 2020 von der Regierung ausgegebene Doktrin zur Begründung des Ausnahmezustands öffentlich wenig in Frage gestellt wurde und Kritikerinnen oder Kritiker des ‚Lockdowns‘ marginalisiert oder diffamiert wurden, z.B. als ‚Corona-Leugner‘ oder ‚Covidioten‘, so die SPD-Vorsitzende Esken am 1.8.2020 über Zehntausende in Berlin demonstrierende Menschen per Twitter. Dieses gilt, obwohl durchaus auch prominent ausgewiesene wissenschaftliche Experten die Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Wirkung von Maßnahmen bezweifelten, wobei sie insbesondere auf eine eher moderate, sich auf sehr hohe Altersgruppen fokussierende Gefährlichkeit von Covid-19 verwiesen und auf die fragwürdige Wirksamkeit von Lockdown-Maßnahmen (dabei legt letzteres schon der Blick auf die relativ ähnlich verlaufenden epidemiologischen Kurven in anderen Ländern nahe, trotz der unterschiedlichen Strenge der Maßnahmen.
Tendenz zur autoritären Technokratie?
Was bedeutet Technokratie und wozu dient das?
Technokratie bedeutet die Herrschaft von Fachleuten oder Sachverständigen, d.h. dass politische Entscheidungen weitgehend bis ausschließlich von Expertinnenund Experten auf der Basis rationaler Argumente getroffen werden, im Extrem z.B. in überparteilichen technokratischen Regierungen wie in Italien unter Monti oder aktuell Draghi, anstelle der üblichen demokratischen Willensbildung und Entscheidung durch parteipolitisch orientierte Repräsentanten.. Als Vorteile der Technokratie gelten, dass bei politischen Entscheidungen rationale, sachliche, objektive Aspekte eine vorrangige oder alleinige Rolle spielen und weniger ideologische, parteiparteipolitische oder partikulare Interessen sowie kurzfristig am Wahlerfolg orientierte, gerade populäre Sichtweisen und Stimmungen (vgl. Haring, 2010; Caramani, 2017; Bertsou & Caramani, 2020). Zudem lässt sich argumentieren, dass die wachsende Kompliziertheit, vor allem technischer Fragen, fachlich Unkundige überfordern, so dass keine vernünftigen politischen Entscheidungen ohne Expertenrat getroffen werden können und Laien oder Politiker und Politikerinnen sich tendenziell kein Urteil mehr anmaßen sollten.
Damit entstehen aber grundsätzliche Fragen und Probleme für die Demokratie, wie es der oben bereits zitierte Ulrich Beck in seinen Überlegungen zur ‚Risikogesellschaft‘ thematisierte, wonach ein ‚legitimer Totalitarismus der Gefahrenabwehr‘ oder wissenschaftlich-technischer Autoritarismus drohe (Beck, 1993, S. 106). Die vermeintliche Alternativlosigkeit infolge von nur noch von wenigen hoch spezialisierten Expertinnen und Experten zu beurteilenden Sachzwängen wird aber nicht nur bei den im engeren Sinn technischen Fragen behauptet, sondern zusehends auch bei wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen. Legendär ist Margret Thatchers Slogan ‚there is no alternative‘ (‚TINA‘), um in der ökonomischen Krise den Abbau des Wohlfahrtsstaats (sowie der Stärkung von Marktkräften per Privatisierung und Deregulierung) durchzusetzen, einer Argumentationslogik, der in ähnlicher Weise die Regierungen Schröder und Merkel in Deutschland folgten (vgl. Séville, 2017). Allerdings stellt sich die Frage, inwiefern es überhaupt eine objektiv beste, rein rationale Entscheidung zum allgemeinen Wohl geben kann oder inwiefern dieses nicht vielmehr eine technokratische Ideologie darstellt und eine Machttechnik, um Widerspruch unmöglich zu machen. Die technokratische Ideologie und Argumentation blendet nämlich aus, dass allen politischen Entscheidungen immer auch Werteabwägungen, ideologische und ökonomische Interessen zugrunde liegen, auch bei scheinbar vorrangigen technischen Fragen. D.h. es gibt bei jeder politischen Frage und Entscheidung Kosten und Nutzen, die nicht für alle Grupen oder Menschen gleich sind, d.h. dass es immer solche gibt, die eher profitieren oder jene, die Nachteile zu tragen haben.
Dabei sind auch Expertinnen und Experten naturgemäß nicht frei von Ideologien und Werthaltungen oder ökonomischen Interessen und längst nicht nur neutral oder objektiv am Gemeinwohl orientiert (sofern dieses überhaupt objektiv bestimmt werden kann), zumal sie auch von Geldgebenden abhängig sind. Dieses lässt sich nicht nur im Blick auf legendäre (und hier nicht mehr weiter zu belegende) Verstrickungen wissenschaftlicher Expertinnen und Experten mit der Atom- und Militärindustrie oder der Medizin- und Pharmawirtschaft kaum leugnen. Dazu kommt, dass auch Expertinnen und Experten naturgemäß nicht frei von Irrtümmern oder Fehlleistungen sind, zumal die Realität immer noch weitaus komplizierter ist als die besten theoretischen und analytischen Modelle, so dass jede Prognostik ein gewagtes Unterfangen bleibt. Jedenfalls haben sich im Grenzbereich von Wissenschaft, Politik und Medien vielfältige, mehr oder weniger wissenschaftlich ausgerichtete und profilierte Netzwerke der ‚Politikberatung‘ und des ‚Lobbying‘ gebildet, wobei kaum zwischen wissenschaftlicher Expertise und ökonomischer oder politischer Einflussnahme unterschieden werden kann. Paradigmatisch stehen dafür sog. ‚think tanks‚ wie z.B. die ‚Bertelsmann-Stiftung‘ oder die ‚Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft‘, welche nicht nur wiss. Studien oder Expertisen anfertigen, sondern auch Tagungen, Symposien, Pressekonferenzen usw., mithilfe von Public-Relations- und Marketing-Agenturen oder ’spin doctors‘ organisieren und für Politik und Medien fertiges Informations- oder Propagandamaterial bereitstellen (vgl. Schuler, 2015; Leif & Speth, 2006; Pautz, 2008). Die politische Einflussnahme findet in solchen Netzwerken aber eher unauffällig, indirekt und eher unbewusst statt, wobei die finanzielle Förderung durch Politik und Wirtschaft, mit der Vorgabe von Aufgabenstellungen und Zielsetzungen als ‚goldene Zügel‘ wirken, zumal durchaus lukrative Nebeneinkünfte (mit eventuellen Folgeaufträgen) und Prestige für die in Wissenschaft, Politik und Medien Tätigen im Spiel sind. Dazu kommt auch eine oft über Jahre wachsende soziale Nähe, bei meist ähnlicher akademischer Sozialisation und Karrierewegen, mit ähnlichem Habitus, was fast schon alleine für oft ganz selbstverständlich für ähnliche oder wohl abgestimmte, passende Sichtweisen sorgt.
Fortsetzung im Anschluss