nachdenkseiten.de, 09. Juni 2021 um 12:00, Ein Artikel von Wolf Wetzel | Verantwortlicher: Redaktion
Mit dem Urteil gegen den früheren bosnisch-serbischen Armeechef Ratko Mladić sei, so ein Kommentar der FAZ vom 8. Juni 2021, die juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in Jugoslawien abgeschlossen. Diese Einschätzung wird von vielen Medien verbreitet – ohne rot zu werden. Was für eine Farce. Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 war und ist völkerrechtswidrig. Niemand der beteiligten Kriegskoalitionäre wurde angegriffen. Keiner aus dieser Kriegskoalition kann das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen. Es handelte sich um einen Angriffskrieg, der völkerrechtswidrig ist. Die Gründe, die man für diese erfundene „humanitäre Intervention“ anführte, waren erstunken und erlogen. Dazu gehört die Behauptung des deutschen Außenministers Joschka Fischer, dass man in der BR Jugoslawien ein „zweites Auschwitz“ verhindern wolle. Dazu gehört die Kriegslüge des deutschen Verteidigungsministers Scharping, der ein KZ in Pristina entdeckt haben wollte. Die in diesem Zusammenhang begangenen Kriegshandlungen sind also Kriegsverbrechen. Die Kriegsverbrechen, die militärisch und politisch Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen sind folglich weder politisch, noch juristisch aufgearbeitet. Sie sind bis heute auf freiem Fuß. Von Wolf Wetzel.
Für die Einleitung eines längst überfälligen Strafverfahrens kann man dieses Dossier frei verwenden.
Der Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 – Die Legende vom ehrlichen deutschen (Friedens-)Makler
Auch wenn die 16-jährige Kohl-Ära den Weg dorthin ebnete, war klar, dass die Zustimmung zu einem Angriffskrieg ein schwieriges Unterfangen ist. Der Irak war weit weg, die nationalsozialistische Parole „Serbien muss sterbien“ noch nicht ganz verklungen. Die Assoziationskette zwischen deutschen Reichswehrsoldaten, die 1941 Jugoslawien überfielen, und deutschen Bundeswehrsoldaten, die fast 60 Jahre später möglicherweise als Besatzer zurückkehren, wog schwer. Ein ‚neues‘ Deutschland musste her. Nichts eignete sich dazu mehr, als das Bild von einem Deutschland zu zeichnen, das keinerlei eigene hegemoniale Interessen hege. Ein Deutschland, das einzig und alleine von dem Wunsch getragen sei, zu einer Friedenslösung zwischen zwei Bürgerkriegsparteien beizutragen. Nicht von ungefähr stand das deutsche Bemühen um eine friedliche Beilegung des ‚Kosovokonflikts‘ im Vordergrund der Berichterstattung. Es war die Stunde des Außenministers Joschka Fischer, der quer durch die Welt flog, Russland ins (Nato-)Boot holte und Friedenswillen demonstrierte – bis zum Abwinken:
»Ich war bei Milosevic … Ich habe ihn angefleht, darauf zu verzichten, dass die Gewalt in Kosovo eingesetzt wird. […] Ich bin nun weiß Gott kein zartes Pflänzchen beim Nehmen und beim Geben. Aber es hat weh getan, wenn der persönliche Vorwurf erhoben wurde, ich hätte die Bundesrepublik in den Krieg gefingert. […] Ich kann nur versichern, ich habe alles getan, was in meinen Kräften stand, um diese Konfrontation zu verhindern.« [1]
Ich werde später darauf zurückkommen, dass die Kluft zwischen dem inständigen Flehen und dem tatsächlichen Verlauf der sogenannten Friedensverhandlungen in Rambouillet kein bedenkliches Wahrnehmungsproblem, sondern Teil einer Kriegsstrategie war.
Mit der Inszenierung des ehrlichen Friedensmaklers, der neutral zwischen den verfeindeten Bürgerkriegsparteien vermittelt, wurde eine weitere Legende ins Spiel gebracht: die Behauptung, Europa und die USA hätten jahrelang tatenlos zugeschaut – völlig unbeteiligt und interesselos. Aufgeladen wurde diese Legende mit dem historischen Verweis auf die Appeasementpolitik des Westens, als Nazideutschland 1938 Österreich annektierte – und die späteren Siegermächte dabei zuschauten. So vordergründig und dreist diese historische Parallele ist, so verlogen ist die behauptete Tatenlosigkeit.
Der lautlose Krieg
So lange es den kommunistischen Ostblock und den Warschauer Pakt als Gegenstück zur Nato gab, das Gleichgewicht des Schreckens Kriege in den jeweils anderen Einflusssphären ausschloss, waren auch die Balkan-Staaten für militärische Interventionen des Westens tabu. Die Destabilisierung nicht-kapitalistischer Staaten, die Bekämpfung des ‚kommunistischen Feindes‘ musste mit anderen Mitteln erfolgen als in der Gestalt offener Kriege.
So forderte z.B. die US-Geheimdirektive von 1982 (NSDD 54) „gesteigerte Anstrengungen zur Förderung einer stillen Revolution, um die kommunistischen Regierungen und Parteien zu Fall zu bringen“ [2] Bis zum Tod Titos 1980 war Jugoslawien ein Scharnier zwischen dem kommunistischen Ostblock und dem kapitalistischen Westen – bekannt geworden als Dritter Weg. Eine Mischung aus Privat- und Kollektivwirtschaft, kapitalistischen Zugeständnissen und sozialistischen Errungenschaften. »Das durchschnittliche Wachstum des Bruttoinlandsproduktes betrug 6,1 % pro Jahr, und zwar über die Dauer von 20 Jahren (1960-1980), es gab freie medizinische Versorgung … die Alphabetisierungsrate lag bei 91 %, die durchschnittliche Lebenserwartung bei 72 Jahren«[3].
Nach dem Tod Titos verschärfte sich die Gangart der westlichen Kreditgeber. Im selben Jahr trat Jugoslawien dem Internationalen Währungsfond bei, akzeptierte höhere Schuldentilgungsraten und die damit verbundenen „Strukturanpassungsprogramme“ des IWF. Die Folgen dieser Politik, die Folgen dieser strukturellen Anpassungsprogramme an den kapitalistischen Weltmarkt waren gravierend: Das Wirtschaftswachstum fiel von durchschnittlich +6,1 % jährlich, Schritt für Schritt, Jahr für Jahr, bis es 1990 bei -10,6 % anlangte. Hunderte Fabriken wurden in den Konkurs geschickt, Zehntausende ArbeiterInnen entlassen, ein Lohnstopp verhängt. Das jugoslawische Modell der ›Arbeiterselbstverwaltung‹ wurde ausgeschlachtet. Ganz oben auf der Prioritätenliste stand die Abschaffung der vergesellschafteten Betriebe unter der Leitung von Betriebsräten, gegebenenfalls deren Umwandlung in privatkapitalistische Unternehmen. Parallel dazu wurde der Abbau des Sozialsystems, die Reduzierung des öffentlichen Sektors verordnet. Man kann davon ausgehen, dass diese kapitalistischen Anpassungsprogramme viele trafen – mit Sicherheit nicht die Machteliten in Jugoslawien, die diesen Bedingungen zustimmten und sie gegen die Bevölkerung durchsetzten. Mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen wuchs die Unzufriedenheit. Die »stille Revolution« nahm konkrete Gestalt an …
Es bleibt Spekulation, in welche Richtung sich diese sozialen und gesellschaftlichen Umbrüche entwickelt hätten, wenn es in den 90er Jahren noch den Ostblock und den Warschauer Pakt gegeben hätte. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks brach für Jugoslawien nicht nur ein nicht-kapitalistischer Wirtschaftsraum weg. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes wurde vor allem die bis dahin gültige Aufteilung in politische und wirtschaftliche Einflusssphären obsolet. Das galt und gilt zu allererst für die Balkanstaaten, die sich bis 1989 im Niemandsland der Systemblöcke bewegten.
Ist es ein Zufall, dass die verschiedenen Separationsbestrebungen in fast allen Republiken Jugoslawiens Anfang der 90er Jahre politisch stark, bestens bewaffnet waren/wurden und die Unterstützung fast aller europäischer Staaten genossen? Bei der Filetierung, bei der Erstürmung des „Völkergefängnisses“[4] Jugoslawien stand die Außenpolitik Deutschlands nicht abseits, sondern mittendrin. In ihrer Anerkennungspolitik war Deutschland führend.
Als erster westeuropäischer Staat hat Deutschland am 23.12.1991 Kroatien (und Slowenien) anerkannt. Was im Kosovo Begründung für ein militärisches Eingreifen wurde, ist gegenüber Kroatien integraler Bestandteil der Anerkennungspolitik: „In nur einem Tag wurden aus der kroatischen Krajina 200.000 Serben vertrieben …“[5] – in Folge eines Blitzkrieges der kroatischen Armee 1995 gegen ‚abtrünnige Rebellen‘. „Nach Einschätzung des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) leben noch immer 250.000 serbische Vertriebene aus Kroatien in Serbien und Montenegro sowie gut 30.000 in Bosnien-Herzegovina.“[6]. Deutschland begnügte sich nicht damit, die Ergebnisse nationalistischer Politik zu begrüßen und (angeblich gesuchte) Kriegsverbrecher im Kreis der europäischen Familie willkommen zu heißen.
Deutschland sorgte auch ganz unmittelbar dafür, dass eine nationalistische und ethnisierende Politik Aussicht auf Erfolg hatte. Was Jahre später mit ernster und verdunkelter Miene als ›Kosovo-Konflikt‹ wahrgenommen werden sollte – hatte die aktive Rolle Deutschlands zur Voraussetzung. So wurde die UCK in ihrem Kampf um ein unabhängiges Kosovo nicht nur politisch unterstützt. Deutschland war auch maßgeblich an ihrer Bewaffnung und militärischen Instruierung beteiligt.
Man kann es als ein Meisterstück der Travestie begreifen, dass dieselben, die die UCK politisch und militärisch bewaffneten, Jahre später die Stationierung von weiteren Bundeswehreinheiten in Mazedonien damit begründeten, bei der Entwaffnung von UCK-Rebellen und der friedlichen Beilegung des Mazedonien-Konfliktes behilflich zu sein.
Friedensverhandlungen in Rambouillet – ein Kriegsbeschaffungsprogramm
Dem Krieg gingen wochenlange Verhandlungen zwischen der jugoslawischen Regierung, einzelnen Nato-Staaten und kosovo-albanischen Vertretern in Rambouillet voraus. Was beinhaltete der dort vorgelegte Friedensplan? Woran scheiterten die Verhandlungen in Rambouillet? Waren diese Verhandlungen Teil eines Friedensprozesses oder Bestandteil eines gewollten Krieges?
Die jugoslawische Regierung stimmte dem politischen Teil dieses Abkommens, dem dort verankerten Autonomiestatus für den Kosovo, zu. Ebenfalls akzeptierte sie die Anwesenheit von UN-Soldaten im Rahmen dieser Lösung. Was sie entschieden ablehnte, war „ein Nato-Besatzungsstatut für ganz Jugoslawien“[7], das im Anhang (Annex B) ausgeführt wurde. Unter Artikel 8 war vorgesehen:
„Das Nato-Personal soll sich mitsamt seiner Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Ausrüstung innerhalb der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien inklusive ihres Luftraumes und ihrer Territorialgewässer frei und ungehindert sowie ohne Zugangsbeschränkungen bewegen können“[8].
Was dies im Klartext bedeutet hätte, führte der SPD-Abgeordnete Hermann Scheer aus:
„Das entspricht faktisch einem Nato-Truppenstatut für Jugoslawien insgesamt, was normalerweise nur ein Staat nach einer vollständigen Kapitulation zu unterschreiben bereit ist.“[9]
Wenn es also um die Verhinderung einer „humanitären Katastrophe“ gegangen wäre, wäre eine friedliche Lösung des ‚Kosovo-Konfliktes‘ möglich gewesen. Doch so wenig es um die Menschen im Kosovo ging, so wenig ging es um die friedliche Beilegung des Konfliktes. Die gezielte Desinformationspolitik der Nato und der rotgrünen Kriegskoalition, das bewusste Schweigen darüber, warum die Verhandlungen in Rambouillet scheitern mussten, hatten nicht ein Friedensabkommen, sondern den Kriegseintritt der Nato zum Ziel. Das Scheitern der ‚Friedensbemühungen‘ war vorprogrammiert.
Um diesen gewollten Kriegseintritt nicht zu gefährden, wurden selbst die Abgeordneten des Bundestages getäuscht, als sie über die deutsche Beteiligung an diesem Angriffskrieg befinden sollten. Sie stimmten zu, ohne dass ihnen der vollständige Vertragstext, einschließlich des Annex B, vorlag. Ein eklatanter Bruch verfassungsrechtlicher Normen, denen die meisten Abgeordneten – ohne Widerspruch, ohne parlamentarische Folgen – zustimmten.
Der erste Angriffskrieg Deutschlands nach 1945
Am 24.5.1999 begann die Nato mit der Bombardierung Jugoslawiens. Einen Tag später stand für die VertreterInnen eines „gesunden“ und völlig „normalen“ Nationalismus ein Sieg bereits fest:
»Könnte es sein, dass sich Deutschland seit wenigen Tagen definitiv im Zustand der Normalität befindet? … Bundesluftwaffe … an vorderster Front … seit Frühjahr 1945 stehen wir wieder mittendrin…der längst fällige Durchbruch zur kompletten Normalität … Auf dem Sektor der Ökonomie hat die Bundesrepublik die Normalisierungsprozesse bereits seit Jahrzehnten abgeschlossen. Jetzt ist auch die ganze Palette der Außenpolitik erfasst.«[10]
Der Weg dorthin wurde lange und umfassend vorbereitet. Ideologisch wurde bereits vor 1989 daran gearbeitet, das Nachkriegsdeutschland von der »ewigen Schuld« zu befreien. Man erklärte sich für »normal« und »grundlegend zivilisiert«. Mit der Wiedervereinigung wurden die letzten erkennbaren Folgen des verlorenen Weltkrieges beseitigt. Höchste Zeit, in die Zukunft zu schauen: »Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten.«[11]. Während mit der Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen, wie z.B. der Gleichsetzung Nazi-Deutschlands mit der SED-Regierung, die bis dato anerkannte „besondere“ Verantwortung Deutschlands auf das europäisch übliche Maß zusammengestaucht wurde, näherte sich die deutsche Bundeswehr ihrem ersten ›direkten‹ Kampfeinsatz von allen Seiten: Mal mit deutschen Kriegsschiffen im Mittelmeer und Minensuchbooten vor der Küste Kuwaits während des US-alliierten Angriffes auf den Irak (1991). Mal mit Bundeswehrsanitätern und Verbandsmaterial in Kambodscha (1992/93), ein anderes Mal als Soldaten eines Nachschublagers in Somalia (1993/94). Die Produktpalette reichte von den »Engeln von Phnom Penh« (Verteidigungsminister Rühe) bis hin zur friedenssichernden Militärtruppe in Bosnien (1996).
»Die Reise in die außenpolitische Normalität«[12] hatte nicht die territoriale Verteidigung im Auge. Als es noch einen militärisch-relevanten und system-ideologischen Feind gab, den kommunistischen Ostblock, war man bereits in der »Vorneverteidigung«. Nach dessen Zusammenbruch entdeckte auch Deutschland seine vitalen Interessen überall in der Welt, die es nicht nur wirtschaftlich und politisch durchzusetzen gilt. Damit war und ist die BRD auf NATO-Höhe.
»(Auch) die Allianz wurde ausschließlich als Bündnis zur Verteidigung des Territoriums der Mitgliedsstaaten gegründet (Art. 5). Hat sich diese Verteidigungsaufgabe überholt, weil der Feind abhandengekommen ist, so ist es legitim, sich nach neuen Aufgaben und einer neuen Legitimation umzuschauen – was man spätestens seit 1989 intensiv tut«[13]
Eine kindgerechte Umschreibung für einen Imperialismus, der andere Staaten in Grund und Boden bombt – dabei mit ernster Miene auf das Völkerrecht verweist und selbst milde-lächelnd dran vorbeizieht. Was jahrelang noch den eigenen Statuten widersprach, wurde auf der 50. Jahrestagung der Nato 1999 mit einer Neudefinition aus dem Weg geräumt: Weg von der territorialen Verteidigung, hin zur militärischen Durchsetzung globaler Interessen. Kurzum, die Etablierung einer »Weltinnenpolitik«, die sich selbst das Mandat erteilt, wo die Interessen der imperialistischen Staatengemeinschaft verletzt sind und militärisch verteidigt werden müssen. Damit verschieben sich im wahrsten Sinne des Wortes Grenzen. Mit der Neufassung der Nato-Statuten wurden de facto die völkerrechtlichen Dogmen von der nationalen Souveränität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten für null und nichtig erklärt. Der »low intensity war« der 70er und 80er Jahre geht mit viel Applaus in eine offene Kriegsführung über.
Was sich in Europa im Bombenhagel gegen Jugoslawien etabliert, hat und wird Methode: Am Anfang steht die politische und wirtschaftliche Destabilisierung eines missliebigen Staates, der sich der Welt’innen‘politik und/oder dem kapitalistischen Weltmarkt nicht unterwirft. Als nächster Schritt folgt die Ethnifizierung sozialer Konflikte, die mit der Stärkung nationalistischer/religiöser Gegenspieler einhergehen. Mit finanziellen und militärischen Mitteln baut man diese auf, bis sich ›bürgerkriegsähnliche‹ Zustände einstellen. Dann folgt das einstudierte Erschrecken ob der Ereignisse, denen man nicht mehr tatenlos zusehen kann. Genau der richtige Zeitpunkt, das Ringen um eine politische, friedliche Lösung, die selbstlose Vermittlerrolle zwischen zwei Kriegsparteien in Szene zu setzen. Am Ende steht – gegebenen Falles – die direkte militärische Intervention, ausgestattet mit einer moralischen Legitimation, die zu verhindern vorgibt, wofür sie jahrelang die Bedingungen geschaffen hat. Wenn die US-Außenministerin Albright erklärt, dass die »Eindämmung von ethnischen Konflikten« als neues NATO-Kriegsterrain erschlossen werden muss – mit der Fähigkeit und Bereitschaft, zwei oder drei solcher Kriege gleichzeitig zu führen – dann folgt sie genau diesem Drehbuch.
Jugoslawiens nach der Kapitulation – Noch nie war der nächste Krieg so greifbar
Soviel Herzlichkeit und Überschwang unter all den (Staats-)Männern, die sich mit diesem Krieg so schwertaten, war schon lange nicht mehr auf dem Bildschirm zu sehen. Die Nachricht, dass das serbische Parlament am 6.4.1999 die Nato-Bedingungen, Wort für Wort, annahm, schlug wie eine (Cocktail-)Bombe in den Reihen der EU-Minister in Köln ein. Bundeskanzler Schröder ließ es sich nicht nehmen, ganz unprotokollarisch ein Kölsch zu trinken. Er lachte, winkte, war einfach locker drauf. Das steckte an. Und so lagen sich einige Kriegskollegen, vor laufenden Kameras, ganz ungeniert und distanzlos, in den Armen. Es gab allen Grund, so ausgelassen zu sein. Das Bomben hatte sich gelohnt. Und der ›Frieden‹ noch mehr.
Jugoslawien liegt in Schutt und Asche, die gesamte zivile Infrastruktur ist zerstört. Die unter Nato-Aufsicht zurückkehrenden Flüchtlinge werden in ein zerbombtes Land zurückkehren. Ihre eh kargen Lebensbedingungen werden sie noch zerstörter vorfinden. Die Bundesrepublik Jugoslawien als souveräner Staatenbund existiert nicht mehr. Was als Annahme des Fischer-Friedensplanes gehandelt wird, ist nichts anders als der vorläufige Schlusspunkt unter die Filetierung Jugoslawiens.
Man muss den Wortlaut des Fischer-Friedensplans nicht kennen. Wer in 79 Tagen ein Land in Schutt und Asche legt, verhandelt nicht über das Danach. Er legt es einfach fest.
War wirklich etwas Anderes zu erwarten? Gegen den Luftkrieg der Nato war Jugoslawien vom ersten Tag an hilflos. Was blieb, waren Hoffnungen, Spekulationen und historische Bemühungen. Alles zerplatzte, Tag für Tag. Die Hoffnungen, die Nato könne einen wochenlangen Krieg innenpolitisch nicht durchsetzen, erwiesen sich als falsch. Weder entstand eine entschlossene Kriegsopposition in den einzelnen kriegsführenden Nato-Ländern, noch taten sich erstzunehmende Risse im Block der Kriegskoalitionäre auf.
Auch die Hoffnung Jugoslawiens, Russland könne seinen aus Sowjetzeiten erworbenen Hegemonialanspruch auf den Balkan geltend machen, erwies sich mehr als überholt. Zwar nährte so manch lancierte Drohung (Waffenlieferungen an Jugoslawien, die Entsendung von Kriegsschiffen, die Wiederausrichtung atomarer Ziele auf Nato-Staaten) diese Illusion. Doch es bedurfte in all diesen Fällen nicht einmal der Nato, diese ›Drohungen‹ zu bewerten. Sie wurden jedes Mal von der russischen Führung prompt und gehorsam dementiert. Denn all diesen Drohszenarien zielten zu keiner Zeit auf die Nato, sondern auf die inner-russische Opposition, die mit martialischen Ankündigungen und Andeutungen ruhiggestellt werden sollte.
Schließlich und endlich dürfte auch der jugoslawischen Regierung klar gewesen sein, dass der Versuch, den Nato-Krieg mit dem faschistischen Überfall Deutschlands und Italiens zu vergleichen, bestenfalls propagandistische Wirkung haben konnte. Für einen Partisanenkrieg fehlten die militärischen, vor allem aber die gesellschaftlichen Voraussetzungen.
Gesellschaftliche Voraussetzungen, die die jugoslawische Führung viele Jahre zuvor eigenhändig mit zerstörte. Zwar brachte der Nato-Krieg die jugoslawische Opposition so gut wie zum Schweigen. Doch eine soziale, gesellschaftliche Utopie, die sowohl über diesen mörderischen Nato-Krieg, als auch über dessen zivilgesellschaftliche Version, Anschluss an den Kapitalismus, hinausweist, hatte weder die jugoslawische Regierung noch die (parlamentarische) Opposition. Die Drohung mit einem Partisanenkrieg blieb Kriegsrethorik und musste es bleiben – angesichts einer post-kommunistischen Führung, die der Zerschlagung Jugoslawiens nicht viel mehr entgegensetzte als Panzer und untaugliche historische Analogien.
Eine »Luftkampagne« für den Frieden?
Viele Informationen, die vor dem Krieg nicht zugänglich waren, stehen jetzt zur Verfügung. Viele Spekulationen darüber, warum die Nato Krieg führte, können mit und nach Beendigung des Krieges ad acta gelegt werden. Viele Zweifel an der behaupteten »humanitären Intervention« können jetzt anhand der Kriegsergebnisse überprüft werden. Zentrale Behauptung der KriegsbefürworterInnen war: Es gab keine ›realistische‹ Alternative zum Nato-Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, um eine »humanitäre Katastrophe« zu verhindern. Was bleibt davon heute übrig?
Das offizielle politische Ziel der Nato-Angriffe war, die jugoslawische Regierung an den Verhandlungstisch ›zurückzubomben‹. Sie sollte das Abkommen von Rambouillet unterschreiben. Bereits fünf Tage nach den Angriffen der Nato erklärten führende Vertreter der Nato-Staaten das Rambouillet-Abkommen für überholt. Ein unabhängiger Staat Kosovo sei jetzt die einzig-realistische Lösung. Nach 14 Tagen Bomben-Krieg wurden Nato-Vertreter noch deutlicher. Das Wort vom »Nato-Protektorat« machte die Runde. Damit näherte sich die seit über zehn Jahren betriebene Zerschlagung und Aufteilung Jugoslawiens der letzten Phase.
Daran konnte auch ein am 6.4.1999 von der jugoslawischen Regierung verkündeter einseitiger Waffenstillstand nichts ändern. Das Angebot, alle militärischen Einheiten aus dem Kosovo abzuziehen, verbunden mit der Zusicherung, dass die Flüchtlinge in den Kosovo zurückkehren können, stieß auf taube Ohren. Worum es der Nato wirklich ging, machten Nato-Sprecher und Bundeskanzler Schröder noch am selben Tag deutlich: Um die vollständige Zerschlagung der jugoslawischen Armee und die anschließende Stationierung von Nato-Streitkräften – koste, was es wolle.
Diese ›Verhandlungsstrategie‹ ist eingeübt. Sie ist Teil einer Inszenierung, die Krieg nicht verhindern, sondern ermöglichen soll. Bereits im US-alliierten Krieg gegen den Irak 1991 wurde sie mit Erfolg angewandt: Nach dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait machte die irakische Regierung das Angebot, sich aus dem Kuwait zurückzuziehen. Die Antwort des damaligen US-Präsidenten George Bush war eindeutig: »Es wird keine Verhandlungen geben.«
So wenig es im Golfkrieg 1991 um die Besetzung bzw. Wiederherstellung der nationalen Souveränität Kuwaits ging, so wenig ging es im Nato-Krieg gegen Jugoslawien um eine politische Lösung. Über die eigentlichen Ziele der USA und/oder der Nato wird nicht verhandelt – weder im Golf-Krieg, noch im Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien.
US-Bomberpilot: »Ich befinde mich auf 3.000 Fuß. Unten befindet sich ein Konvoi aus Autos und einigen Traktoren. Was ist das? Ich fordere Instruktionen.«
Awac: »Was für ein merkwürdiger Konvoi das ist? Was für Zivilisten, verdammt, es handelt sich um einen serbischen Trick. Zerstöre das Ziel.«
US-Bomberpilot: »Was soll ich zerstören? Traktoren? Autos? Ich wiederhole, ich sehe keine Panzer. Ich fordere weitere Instruktionen.«
Awac: »Es handelt sich um ein militärisches Ziel, ein legitimes militärisches Ziel. Zerstöre das Ziel. Ich wiederhole: Zerstöre das Ziel.«
US-Bomberpilot: »Verstanden. Ich feuere.«
Funkverkehr zwischen dem Piloten eines US-amerikanischen Kampfflugzeuges, das einen kosovarischen Flüchtlingstreck beschoss und dem Awac-Leitflugzeug für diesen Angriff, bei dem mindestens 45 Personen getötet wurden. (Il Manifesto)
Gegen wen führte die Nato tatsächlich Krieg?
Mit der Behauptung einer »humanitären Intervention« war das Versprechen verknüpft, keinen Krieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen. Tatsächlich wurden in den ersten beiden Wochen vor allem militärische Ziele zerstört. Das führte jedoch weder zu einer Kapitulation der jugoslawischen Armee noch zu einer Demoralisierung der Zivilbevölkerung. Anstatt sich gegen den »Diktator« zu erheben, gingen Hunderttausende gegen die Nato-Angriffe auf die Straße. Zweifel wurde in den kriegsführenden Staaten laut, dass dieser Krieg so zu gewinnen sei. Der Einsatz von Bodentruppen wurden erwogen und wieder verworfen. Stattdessen wurde die »Ausweitung militärischer Ziele« beschlossen: Von nun an sollte auch die Zivilbevölkerung um ihr Leben fürchten:
»Ich denke, kein Strom für deinen Eisschrank, kein Gas für deinen Herd, du kommst nicht zur Arbeit, weil die Brücke weg ist – die Brücke, auf der du deine Rockkonzerte veranstaltet hast – und ihr alle standet da, mit Zielscheiben auf euren Köpfen. Das muss um drei Uhr morgens verschwinden.«[14]
Spätestens seit dem Golf-Krieg 1991 kann man wissen, was damit gemeint ist, wenn nicht mehr von militärischen, sondern von »legitimen Zielen« die Rede ist. Eine andere Umschreibung für einen Krieg, der sich fortan gegen die zivile und wirtschaftliche Infrastruktur eines Landes richtet. Die Liste ist lang. Sie reicht von Tabakfabriken, Düngerfabriken, Ölraffinerien, Treibstofflagern, Umspannwerken, Sendeanlagen, Automobil- und Chemiewerken, bis hin zu (Eisenbahn-)Brücken, Kliniken, Trinkwasseranlagen und Telefonzentralen: »Insgesamt 31 größere Fabrikanlagen im ganzen Land sind im ersten Kriegsmonat zerstört worden. Der Kriegsschaden wird auf umgerechnet etwa 180 Milliarden Mark geschätzt. Auch zwanzig Straßen- und Eisenbahnbrücken wurden inzwischen zerstört oder schwer beschädigt, wie die Regierung in Belgrad und die Nato übereinstimmend berichten.
Nach zehn Jahren unter UN-Sanktionen war das Land bereits vor Beginn der Nato-Angriffe auf das Niveau von 1968 zurückgeworfen. Inzwischen habe die NATO Jugoslawien allerdings auf den Stand ›zurückgebombt‹, den es am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte, sagen Belgrader Wirtschaftsexperten.«[15]
Anders als im US-alliierten Krieg gegen den Irak konnten sich selbst KriegsbefürworterInnen ein Bild davon machen. Kaum ein Tag verging, wo nicht ein Getreidesilo brannte oder eine Autofabrik in Schutt und Asche gelegt wurde. Offensichtlich sahen die Nato-Strategen die Zeit für gekommen, auch die Bevölkerung in den kriegsführenden Staaten an diese Art der Kriegsführung zu gewöhnen. Sie sollten Recht behalten. Die vor allen Augen durchgeführte »Pulverisierung«[16] der zivilen Infrastruktur Jugoslawiens irritierte nicht mehr. Nicht ganz. Als die Nato ein Treibstoffdepot in Belgrad bombardierte, dabei auch Fensterscheiben der Residenz des Schweizer Botschafters zersprangen, »entrüstete« sich Außenminister Joschka Fischer: »Der deutsche Nato-Vertreter in Brüssel werde verlangen, dass die Allianz künftig zivile Schäden vermeiden müsse, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.«[17] Eine Geste in Richtung Orchestergraben besorgter ZivilgesellschaftlerInnen, wie sich alsbald herausstellte. »Nato-Sprecher Jamie Shea erklärte in Brüssel zu den Forderungen Fischers, kein Mitgliedsland habe um eine Änderung der bisherigen Zielpolitik der Nato gebeten.«[18]
Spätestens mit dieser Eskalation ist das eingetreten, was die NATO zu verhindern vorgab. Der Flüchtlingsstrom schwoll um ein Vielfaches an. Vor dem Nato-Angriffskrieg zählten internationale Flüchtlingsorganisationen ca. 200.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo. Nach 14 Tagen Krieg zur Verhinderung einer »humanitären Katastrophe« wurden es ca. 900.000 Flüchtlinge[19]. Dass alle Nachbarstaaten damit gänzlich überfordert waren und die reichen kriegsführenden Nato-Staaten alles dafür taten, so wenig Flüchtlinge wie irgend möglich ins eigene Land zu lassen, gehört zur Perversion dieser humanitären Kriegsrethorik.
Die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktureinrichtungen zielte nicht auf einen militärisch bereits geschlagenen Gegner. Es ging vor allem darum, einen Geiselstatus zu schaffen, für die Zeit nach dem Krieg. Wer nach einem solchen Krieg an der Macht bleibt oder an die Macht kommt, ist eine Frage der Kosmetik. Das Sagen werden die haben, die die Bedingungen für die Kredite zum Wiederaufbau diktieren. Und die sind nicht wählbar. »Nicht alles, was passiert, wird auf dem Bildschirm zu sehen sein«, erklärten Nato-Sprecher süffisant. Dazu zählt mit Sicherheit die völlige ökonomische und politische Abhängigkeit Jugoslawiens von den siegreichen Nato-Staaten.
Wer sich davon ein ungefähres Bild machen will, muss nur einen Blick nach Bosnien-Herzegovina werfen: Die bosnische Regierung schätzt, dass der Wiederaufbau 47 Milliarden US-Dollar kosten wird. Die wirtschaftlichen und politischen Interessen der kredit-gebenden (Nato-)Länder sind bereits in die Verfassung eingeschrieben: »Der Hochkommissar hat volle Exekutivrechte in allen zivilen Angelegenheiten. Er kann sogar Regierungsentscheidungen sowohl der bosnischen Föderation als auch der bosnisch-serbischen Republik Srpska außer Kraft setzen«[20]. Genug Demokratie für ein Land, das nicht von einem demokratischen WählerInnenvotum gelenkt wird, sondern einzig und alleine von den Diktaten, die die europäischen Geldgeber an jeden Kredit knüpfen.
Hat der Nato-Krieg gegen Jugoslawien einen »drohenden Völkermord« im Kosovo verhindert?
Die jugoslawische Armee führte einen Krieg gegen die UCK, die für einen unabhängigen Staat Kosovo kämpfte. Jahrelang wurde die UCK von einzelnen Nato-Staaten politisch aufgewertet und militärisch ausgerüstet, allen voran von der BRD und den USA.
Der Kampf gegen Separatismus war und ist kein spezielles Phänomen Jugoslawiens. In allen Nato-Staaten wird gegen jede bewaffnete Gruppe oder Organisation vorgegangen, die die Verfasstheit des jeweiligen Staates mit Waffengewalt infrage stellen will – ob in Irland gegen die dort operierende IRA, ob in Spanien gegen die ETA oder in der Türkei gegen die PKK. Im Kampf gegen separatistische Strömungen sind sich alle europäischen Staaten einig. In der Sprachregelung auch: Er wird als ›Kampf gegen den Terrorismus‹ geführt, grenzüberschreitend, mit legalen und mit illegalen Mitteln. Warum die UCK nicht – wie alle anderen auch – als ›Terroristen‹ bekämpft, sondern als ›Freiheitskämpfer‹ unterstützt wurden, liegt vor allem am gemeinsamen Feind: Jugoslawien. Im Kampf gegen die politische und ökonomische Verfasstheit der Bundesrepublik Jugoslawien passten die unterschiedlichen Rollen sehr gut zueinander: Der UN-Sicherheitsrat stellte mithilfe des verhängten Wirtschaftsembargos die ökonomische Strangulierung sicher, die UCK operierte mit bewaffneten Aktionen am Boden und die Nato demonstrierte mit ihrem Bombenkrieg Lufthoheit.
Ging die jugoslawische Armee mit ihrem Kampf gegen die UCK im Kosovo mit Mitteln vor, die sich der »ethnischen Kriegsführung« bedienten? Gehörten Massaker gegen die Zivilbevölkerung zum Kampf gegen die UCK? Wurden Kosovo-AlbanerInnen systematisch vertrieben?
Ronald Keith war bis März 1999 Direktor der OSZE-Kosovo-Überwachungskommission (KVM). In einer kanadischen Zeitung beschreibt er seine Eindrücke bis zum 20.3.1999, dem Zeitpunkt, als die OSZE-Beobachter abgezogen wurden. Er berichtet von UCK-Hinterhalten, von Gegenreaktionen, von einem Kleinkrieg, »doch, wie ich bereits an anderer Stelle feststellte, wurde ich weder Zeuge noch erhielt ich Informationen über sogenannte ›ethnische Säuberungen‹, und mit Sicherheit gab es keine Vorkommnisse von ›Völkermord-Politik‹, solange ich mit der KVM im Kosovo war.«[21]
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt ein im März 1999 erstellter geheimer Lagebericht des deutschen Verteidigungsministeriums: »In den vergangenen Tagen kam es zu keinen größeren Auseinandersetzungen zwischen serbisch-jugoslawischen Kräften und der UCK … Die serbischen Sicherheitskräfte beschränkten ihre Aktionen in jüngster Zeit auf Routineeinsätze wie Kontrollen, Streifentätigkeit, Suche nach Waffenlagern und Überwachung wichtiger Verbindungsstraßen.«[22]
Genau das Gegenteil wurde in die Öffentlichkeit lanciert. Es drohe ein »Völkermord«, wenn die Nato ihn nicht sofort verhindere. Nachdem die Nato über zwei Wochen Jugoslawien bombardierte, ohne dass ein Ende in Sicht war, drohte die Kriegszustimmung zu bröckeln. Der Verteidigungsminister Rudolf Scharping legte nach:
»Wenn ich höre, dass im Norden von Pristina ein Konzentrationslager eingerichtet wird, wenn ich höre, dass man die Eltern und die Lehrer von Kindern zusammentreibt und die Lehrer vor den Augen der Kinder erschießt, wenn ich höre, dass man in Pristina die serbische Bevölkerung auffordert, ein großes ›S‹ auf die Türen zu malen, damit sie bei den Säuberungen nicht betroffen sind, dann ist da etwas im Gange, wo kein zivilisierter Europäer mehr die Augen zumachen darf, außer er wollte in die Fratze der eigenen Geschichte schauen.«[23]
Es gab kein KZ in Pristina und »das ›S‹ zum Schutz der Serben hat in Pristina auf keiner einzigen Tür geprangt.«[24] Der Bombenkrieg wurde fortgesetzt und neben den vielen Zerstörungen wurde tagtäglich das Schicksal der Flüchtlinge ins Bild gerückt. Wie sie dorthin kamen, erzählte der Nato-Sprecher Jamie Shea ganz offenherzig: »Nach dem Angriff auf den Flüchtlingskonvoi bei Djakovica, dem ersten ›Unfall‹ des Krieges, fiel die öffentliche Zustimmung in vielen Ländern, auch in Deutschland, um 20 bis 25 Punkte. Wir mussten sechs Wochen hart arbeiten, um die öffentliche Meinung zurückzugewinnen. Milosevic machte den Fehler, die Flüchtlinge aus dem Kosovo nach Albanien und Mazedonien zu treiben. An der Grenze waren Fernsehteams, die das Leiden filmten. Und so stellte sich die öffentliche Meinung wieder hinter die Nato«[25].
Ob die Flüchtlinge vor ›Milosevic‹ oder vor der Nato und der UCK fliehen, wollte der Verteidigungsminister Rudolf Scharping nicht der Suggestivkraft der Bilder überlassen – und ging auf Nummer Sicher. Am 7.4.1999 trat er mit einem angeblich geheimen jugoslawischen Operationsplan ›Hufeisen‹ vor die Öffentlichkeit: »Er zeigt sehr deutlich, dass in klar erkennbaren Abschnitten die jugoslawische Armee, die jugoslawische Staatspolizei begonnen hat, in der Zeit von Oktober bis zum Beginn der Verhandlungen in Rambouillet, die Vorbereitung für die Vertreibung der Bevölkerung nicht nur zu treffen, sondern diese Vertreibung auch schon begonnen hat. Es zeigt im Übrigen sehr deutlich das systematische und ebenso brutale wie mörderische Vorgehen, das seit Oktober 1998 geplant und seit Januar 1999 ins Werk gesetzt worden ist«[26].
Was weder die OSZE-Beobachter feststellen konnten, noch die geheimen Lageberichte der Nato und des deutschen Verteidigungsministeriums, sollte nun der »Hufeisenplan« beweisen. Das Einzige, was in diesem Zusammenhang wirklich systematisch ist, sind die Aneinanderreihungen von Kriegslügen und Täuschungen: Ein Operationsplan ›Hufeneisen‹ gab es nicht. Der Vorwurf des ›Völker‹mordes, der systematischen Vertreibung und Ermordung von Kosovo-AlbanerInnen erwies sich – spätestens nach dem Krieg – als Propagandalüge. Zu diesem Ergebnis kam auch Heinz Loquai, ehemaliger Brigadegeneral der Bundeswehr und Mitarbeiter der OSZE in Wien, in seinem Buch: »Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg« Dabei stützte er sich vor allem auf interne Tagesberichte der Kosovo-Verifikationsmission (KVM) der OSZE, auf die Monatsberichte des OSZE-Vorsitzes an den UN-Generalsekretär und auf »exzellente Berichte der deutschen Botschaft in Belgrad«. Welche Bedeutung der sogenannten »Hufeisenplan« hat, beschreibt Heinz Loquai folgendermaßen: »Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem »Massaker von Racak« und dem »Hufeisenplan«. Der Leiter der KVM, Walker, zündete mit seiner unbewiesenen Version von »Racak« die Lunte zum Krieg gegen Jugoslawien. Scharping löschte mit dem »Hufeisenplan« die Kritik an diesem Krieg. Beide Anschuldigungen […] konnten so ihren Zweck erfüllen.«[27]
Wer eine noch unverdächtigere Quelle zu Rate ziehen möchte, sei auf den bereits am 17.10.1999 veröffentlichten Stratfor-Bericht verwiesen. Hinter dem Kürzel Stratfor versteckt sich keine anti-imperialistische Gruppierung, sondern die Strategic Forecasting Inc., eine Firma von Sozialwissenschaftlern, Rechercheuren und ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern in Texas. »Dieser Stratfor-Bericht beruht auf Informationen sowohl des UN-Tribunals als auch anderer westlicher Institutionen wie der OSZE oder der KFOR sowie auf Medienberichten. Stratfor-Direktor George Friedmann kam zu dem Ergebnis: ›Sicher ist, dass im Kosovo Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie die Vertreibung von Albanern, begangen wurden. Aber gleichzeitig müssen wir aus den Daten schließen, dass es nicht zu einem massenhaften, systematischen Töten gekommen ist‹«[28]
Mit noch höheren Weihen ist das internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgestattet, das dem früheren Präsidenten Slobodan Milosevic den Prozess macht. Dort wird er wegen vielem angeklagt, nur nicht des »Völkermordes« im Kosovo. »Als Carla del Ponte [Chefanklägerin, d.V.] von ›Le Monde‹ gefragt wurde, warum dieser Anklagepunkt fehle, musste sie zugeben: ›Weil es keine Beweise dafür gibt‹«[29]
Endlich wieder Krieg
Kehren wir zu den EU-Ministern zurück, die auf den ersten gemeinsam gewonnenen Angriffskrieg anstießen. In Siegerlaune schrieben sie sich die nächsten Angriffsziele in ihre Terminkalender: Schneller als geplant soll die EU ihre militärische Führung bekommen. Noch schneller als vorgesehen sollen die militärischen Einheiten für zukünftige Kriege bereitstehen. Der Krieg gegen Jugoslawien diente als Vorlage für eine »westeuropäische Verteidigungsidentität«, der ein militärisches Exempel – im vertraglichen Niemandsland – nicht schadete, sondern entscheidend und beschleunigend zum Durchbruch verhalf.
Deutschland spielte dabei keine Neben-, sondern eine Hauptrolle. Vieles spricht dafür, dass der nächste Krieg, die nächste deutsche Beteiligung daran, ohne große Verweise auf die eigene Vergangenheit auskommen wird. Mit der allerorts gefeierten »außenpolitischen Normalität« ist der Blick nach vorne gerichtet, auf ein Europa als zweite Weltmacht, die militärisch dort nachziehen wird, wo sie politisch und wirtschaftlich längst steht.
Damit kündigt sich militärisch das an, was politisch und wirtschaftlich längst Realität ist: die Nicht-Existenz »nationaler Souveränität« vieler (nicht-europäischer) Staaten. Seit Jahren stehen die nationalen Souveränitätsrechte vieler Staaten, das »Nichteinmischungsgebot in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates«, nur noch auf dem Papier. Die meisten Staaten werden nur noch – höflicherweise – auf der Landkarte vermerkt. De facto wird deren Innenpolitik mehr von ausländischen Gläubigern, Terms of Trade, vom IWF, der Weltbank diktiert, als vom – wie auch immer gearteten – WählerInnenwillen.
Die Business-Class des Krieges – die Bodentruppen in Zivil
Der militärische Teil dieses Nato-Krieges wurde mit der Kapitulation Jugoslawiens am 9.6.1999 beendet. Der Luftraum wurde für den Zivilverkehr wieder freigegeben – und die Manager und Krediteure des Krieges kamen. Zeit für die Business-Class, die Kriegsschäden – auch vom Boden aus – genüsslich zu begutachten. Der Betrag von über 100 Milliarden Dollar machte die Runde. Genug, um am Wiederaufbau genauso zu verdienen wie am Krieg selbst. Was Detlef Hartmann als schöpferische Zerstörung bezeichnet, durfte der deutschen Außenminister Joschka Fischer als »Marshall-Plan« für den ganzen Balkan preisen. Ein »Stabilitätspakt«, ein »Angebot an die Länder aus der Erbmasse des alten Jugoslawiens, sich eng an die EU anzuschließen, um sich auf eine künftige Mitgliedschaft vorzubereiten«[30]. Ein Angebot, zu dem es keine Alternative gibt. Ein „Angebot“, das man besser nicht ausschlägt.
»Gerade angesichts der akuten Krise auf dem Balkan ist es unverzichtbar, dass Europa seine Bereitschaft und Fähigkeit unter Beweis stellt, sich den drängenden Fragen anzunehmen und entschlossen zu handeln«[31]. Eine psychisch bedenkliche Selbstwahrnehmung eines Haufens, der die Tür eintritt und ganz sicher ist, dass alle nach ihm gerufen haben.
Die Nato-Bomber wurden nach 72 Tagen zurückbeordert. Die Business-Class wird Jahre bleiben und die Lebensgrundlagen für die Mehrheit der Menschen noch nachhaltiger zerstören, als es die Bomben taten. Für diese Annahme bedarf es keiner Spekulationen. Ein Blick nach Kroatien, wo sich ein Kriegsverbrecher als Tito-Imitat geriert, ein Blick nach Bosnien-Herzegovina, wo ein Kinderparlament unter Nato-Aufsicht übt, ein Blick auf die Lebensverhältnisse aller ›unabhängigen‹ Staaten Ex-Jugoslawiens genügt. Alles spricht dafür, dass der Balkan der Hinterhof der EU wird.
Der Krieg der Bomben ist vorüber. Die Frage, wie lange die Business Class des Krieges in Frieden gelassen wird, bleibt unbeantwortet. Eine antikapitalistische und antiimperialistische Kritik an Krieg und Frieden (ver-)stört zurzeit die deutsche Linke mehr als die alten und neuen Kriegskoalitionen. Am Frieden hier hängen nicht nur die ‚anderen‘.
Der Krieg gegen Jugoslawien wurde in aller Ruhe vorbereitet. Real-politisch blieb die Anti-Kriegsopposition weitgehendst ZuschauerIn – ob als PazifistIn, Anti-MilitaristIn oder AntiimperialistIn. Dieses friedliche Miteinander wird sich auch der nächste Krieg leisten können.
Krieg ist Frieden. Über Bagdad, Srebrenica, Genua, Kabul nach … Unrast Verlag 2002
[«1] Rede des Außenministers Joschka Fischers auf dem Sonderparteitag der Grünen am 13.5.1999
[«2] Kosovo-Chronologie, GIB
[«3] Die Weltbank, Bericht über die Entwicklung der Weltwirtschaft 1991, zitiert nach M.Chossudovski
[«4] ehem. deutscher Außenminister Kinkel
[«5] Snezana Bogavac, Korrespondentin der unabhängigen jugoslawischen Nachrichtenagentur Beta, FR vom 1.4.99
[«6] FAZ vom 27.5.1999
[«7] FR vom 10.4.99
[«8] FR vom 13.4.1999
[«9] FR vom 13.4.1999
[«10] FR vom 25.3.1999
[«11] Ex-Bundeskanzler Kohl, 30.1.1991
[«12] FAZ vom 3.4.2000
[«13] Norman Paech, Völker- und Verfassungsrechtler, FR vom 26.3.1999
[«14] Nato-Luftwaffenbefehlshaber, Generalleutnant Michael C. Short, The New York Times vom 13.5.1999
[«15] FR vom 30.4.1999
[«16] NATO-Oberbefehlshaber General Clark, ZDF-Sendung vom 21.9.1999
[«17] FR vom Pfingsten 1999
[«18] FR vom Pfingsten 1999
[«19] Tagesschau vom 6.4.1999
[«20] Michael Chossudovsky, Wie Jugoslawien zerstört wurde
[«21] Kosovo-Chronologie, GIB, S.25
[«22] Es begann mit einer Lüge, FR vom 12.2.2001
[«23] Es begann mit einer Lüge, FR vom 12.2.2001
[«24] Es begann mit einer Lüge, FR vom 12.2.2001
[«25] Es begann mit einer Lüge, FR vom 12.2.2001
[«26] Es begann mit einer Lüge, FR vom 12.2.2001
[«27] Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg, S.144
[«28] TAZ vom 3.12.99, „Das Wort Völkermord missbraucht?“
[«29] Konkret 5/2002
[«30] FR vom 2/3.6.99
[«31] Gerhard Schröder an seine EU-Kollegen, FR vom 2/3.6.99
Info: https://www.nachdenkseiten.de/?p=73174