EU-Kriegskoalitionen der Willigen (II) Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell informiert über neue EU-Pläne für die Militärpolitik: eine neue Schnelle Eingreiftruppe, neuartige Rapid Hybrid Response Teams, Koalitionen der Willigen.
german-foreign-policy.com, 11. November 2021
BRÜSSEL/BERLIN(Eigener Bericht) - Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell stellt den Aufbau einer 5.000 Soldaten umfassenden Schnellen EU-Eingreiftruppe sowie neuartiger "EU Rapid Hybrid Response Teams" in Aussicht. Beides ist in dem Entwurf zu dem "Strategischen Kompass" der EU vorgesehen, über den Borrell gestern in Brüssel informierte. Das Papier, das seit dem vergangenen Jahr auf deutsche Initiative erstellt wird, soll der EU-Außen- und Militärpolitik neue Schlagkraft verleihen und im kommenden März endgültig verabschiedet werden. Am Montag wird es den Außenministern des europäischen Staatenkartells vorgelegt. Einen Schwerpunkt bilden neben dem Aufbau der Schnellen Eingreiftruppe ("EU Rapid Deployment Capacity"), die laut Borrell auch ohne Zustimmung aller Mitgliedstaaten eingesetzt und etwa zur Durchsetzung eines Waffenstillstands nach Libyen geschickt werden könnte, neue Maßnahmen im Machtkampf gegen Russland und China, darunter etwa ein Ausbau der EU-Marinepräsenz im Indischen und im Pazifischen Ozean. Vor allem osteuropäische EU-Staaten suchen eine stärkere Unabhängigkeit der EU von den USA ("Strategische Autonomie") zu verhindern.
Zitat: "Eine Anleitung zum Handeln"
Der Plan, die Außen- und vor allem die Militärpolitik der EU, die bisher häufig durch die widerstreitenden Interessen der Mitgliedstaaten gebremst wird, durch eine Einigung auf einen "Strategischen Kompass" mit neuer Schlagkraft zu versehen, ist von der Bundesregierung bereits 2019 in Brüssel präsentiert worden.[1] Am 16. Juni 2020 erteilten die EU-Verteidigungsminister dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell offiziell den Auftrag, den "Kompass" zu erstellen; als Kernelement war eine Bedrohungsanalyse vorgesehen, die die Geheimdienste der EU-Staaten verfassen sollten. Dies ist noch unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 geschehen. Auf der geheimdienstlichen Grundlage wurde anschließend die Arbeit an dem "Kompass" fortgesetzt. Inzwischen liegt ein angeblich 28 Seiten umfassendes Dokument vor; es soll am kommenden Montag den EU-Außenministern präsentiert werden. Nach etwaigen Anpassungen werden sich die EU-Staats- und Regierungschefs im Dezember mit ihm befassen, bevor es dann unter französischer EU-Ratspräsidentschaft formell verabschiedet werden soll - voraussichtlich im März 2022. Borrell erklärt dazu, es handle sich nicht um ein beliebiges neues EU-Papier: "Das ist eine Anleitung zum Handeln."[2]
Gegen Russland und China
Der Entwurf für den "Strategischen Kompass" nimmt, wie berichtet wird, neben regionalen Konflikten vor allem Russland und China ins Visier. Zu Russland heißt es, seine "Handlungen in unserer gemeinsamen Nachbarschaft und an anderen Schauplätzen" widersprächen "der Weltsicht der EU und ihren Interessen".[3] Allerdings hält das Papier zugleich fest, "in einigen speziellen Fragen", etwa in der Klimapolitik, müsse man auch weiterhin mit Moskau kooperieren. Konflikte bei den Verhandlungen am kommenden Montag zeichnen sich ab: Nicht näher bezeichnete EU-Diplomaten haben einem Bericht zufolge angekündigt, sie wollten erreichen, dass "Bedrohungen" durch Russland, von der angeblichen Nutzung von Energie als Waffe bis zu "hybridem Handeln", explizit in dem Papier genannt würden. Zu China heißt es, es sei "Partner, wirtschaftlicher Konkurrent und systemischer Rivale": eine Trias, die auf die deutsche Wirtschaft und die Berliner Außenpolitik zurückgeht.[4] Während es einerseits heißt, man wolle auf bestimmten Feldern weiterhin mit der Volksrepublik kooperieren, wird eine Ausweitung der Marinepräsenz der EU im Indischen und im Pazifischen Ozean ins Auge gefasst, etwa Patrouillenfahrten und gemeinsame Manöver mit Japan, Südkorea, Vietnam, Indonesien und Indien.[5]
"Koalitionen von Willigen"
Spezielles Gewicht kommt darüber hinaus dem Aufbau einer neuen EU-Eingreiftruppe zu, wie sie bereits am 6. Mai 14 EU-Staaten vorgeschlagen haben, darunter Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien. Die Truppe soll bis zu 5.000 Soldaten umfassen, "einschließlich Land-, Luft- und Marinekomponenten"; sie soll je nach konkretem Bedarf aus flexiblen Modulen gebildet werden und schnell einsetzbar sein. Die EU will sich Berichten zufolge 2022 auf "Operationsszenarien" einigen und 2023 mit regelmäßigen praktischen Manövern starten.[6] Ab 2025 soll die Truppe, für die die Bezeichnung "EU Rapid Deployment Capacity" vorgesehen ist, einsatzbereit sein. Um zu verhindern, dass ein Einsatz - wie im Fall der seit 2007 voll operationsfähigen EU Battle Groups - an der Uneinigkeit der Mitgliedstaaten scheitert, sollen "flexiblere Vereinbarungen zur Entscheidungsfindung" getroffen werden. Demnach soll es möglich sein, dass - wie erst kürzlich Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte - EU-"Koalitionen von Willigen" in Kriege ziehen, an denen sich andere Mitgliedstaaten nicht beteiligen wollen.[7] Dazu könne eine "konstruktive Enthaltung" in der entscheidenden Abstimmung dienen, heißt es.[8]
"Wenn nötig, allein"
Dabei zeichnen sich allerdings immer noch Differenzen ab. So wird ein osteuropäischer Diplomat mit der Forderung zitiert, "Einstimmigkeit" müsse in der EU "das Leitprinzip bleiben".[9] Mehrere Staaten Osteuropas, insbesondere Polen und die baltischen Länder, sind dafür bekannt, klar auf die Zusammenarbeit mit den USA bzw. auf die NATO zu setzen und etwaigen eigenständigen militärischen Operationen der EU erhebliche Skepsis entgegenzubringen. Um diesen Einwänden, aber auch dem Druck aus Washington den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird die "Strategische Autonomie", die Brüssel anstrebt - vor allem auf Initiative Frankreichs und Deutschlands -, im Entwurf für den "Strategischen Kompass" nicht ausdrücklich erwähnt. Es heißt lediglich, die EU müsse "mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen"; sie solle "wenn möglich mit Partnern" vorgehen, "wenn nötig" aber auch "allein". Zudem solle die EU im kommenden Jahr einen "Sicherheits- und Verteidigungsdialog" mit den Vereinigten Staaten starten, heißt es in dem Entwurfspapier weiter. Zum Verhältnis zwischen der EU und der NATO verweist der "Strategische Kompass" auf eine Gemeinsame Erklärung der beiden Bündnisse, die noch dieses Jahr vorgelegt werden soll.
Schrumpfende Spielräume
Äußerungen des EU-Außenbeauftragten Borrell zum Hintergrund des "Strategischen Kompasses" zeigen, dass einer der prägenden Faktoren der Brüsseler Strategiebildung der beginnende Abstieg des Westens ist. Bereits kürzlich hatte eine Expertengruppe der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) geäußert, "viele Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU" stünden "in immer größerer Abhängigkeit von Russland, China oder auch der Türkei"; dadurch gingen "Deutschland national und international immer mehr Handlungsspielräume verloren".[10] Borrell räumt nun ein, die Bedrohungsanalyse der EU zeige, "dass wir in einer viel feindlicheren Welt leben, dass unser wirtschaftlicher Spielraum immer mehr angefochten, unser strategischer Spielraum immer mehr bestritten, unser politischer Spielraum immer mehr reduziert wird". Heute kämen "Bedrohungen von überall her". Brüssel reagiert darauf freilich nicht mit Deeskalation, sondern mit weiterer Aufrüstung. Zusätzlich zu der neuen Eingreiftruppe schlägt der Entwurf für den "Strategischen Kompass" die Schaffung weiterer Einheiten vor: "EU Rapid Hybrid Response Teams", die schnell auf sogenannte hybride Angriffe reagieren können. Nach Auffassung der EU findet ein "hybrider Angriff" aktuell an der Grenze Polens und Litauens zu Belarus statt, wo - mit Billigung der belarussischen Behörden - Flüchtlinge Zuflucht in der Union suchen.[11] Für die Zukunft wird mit weiteren "hybriden Angriffen" gerechnet.
[1] S. dazu Der strategische Kompass der EU.
[2] Alexandra Brzozowski: Europe has to become a security provider, says EU's Borrell. euractiv.com 10.11.2021.
[3] Alexandra Brzozowski: LEAK: What the EU's future military strategy could look like. euractiv.com 10.11.2021.
[4] S. dazu Der neue Systemkonflikt (II).
[5] Alexandra Brzozowski: LEAK: What the EU's future military strategy could look like. euractiv.com 10.11.2021.
[6] James Crisp: EU could deploy new military force without asking permission of all member states. telegraph.co.uk 10.11.2021.
[7] S. dazu EU-Kriegskoalitionen der Willigen.
[8], [9] Alexandra Brzozowski: LEAK: What the EU's future military strategy could look like. euractiv.com 10.11.2021.
[10] S. dazu Handlungsempfehlungen an die nächste Bundesregierung (I).
[11] S. dazu Flüchtlingssterben im Niemandsland (II).
Info: https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8760