Zeitgeschehen-im-fokus.ch/de, vom 15. März 2022, Ausg. Nr.: 4
«Die beste Lösung für die Ukrainer wäre, sich unilateral als neutral zu erklären»
«Es braucht jetzt ganz dringend vertrauensbildende Massnahmen»
Interview mit Prof. Dr. iur. et phil. Alfred de Zayas, Völkerrechtler und ehemaliger Uno-Mandatsträger
Zeitgeschehen im Fokus Nahezu die ganze Welt scheint sich einig, Russland unter Wladimir Putin sei – wie früher die Sowjetunion – die Inkarnation des Bösen. Es habe nach 77 Jahren, so der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis, den Krieg zurück nach Europa gebracht und das Völkerecht gebrochen. Was sagen Sie als Völkerrechtler dazu?
Prof. Dr. Alfred de Zayas Als Neu-Schweizer seit 2017 bedauere ich diese undifferenzierte und falsche Haltung, die unser Aussenminister an den Tag legt. Noch bedauerlicher finde ich den Bruch mit der Tradition der Schweizer Neutralität.
Nein, was Cassis gesagt hat, stimmt so nicht, und das, was dem Wortlaut nach richtig erscheinen mag, muss man genauer betrachten. Völlig falsch ist, und es ist mehr als peinlich, dass ein Mann wie Bundesrat Cassis als Bundespräsident und Vorsteher des Departementes für auswärtige Angelegenheiten so eine Geschichtslosigkeit in einer offiziellen Verlautbarung formulieren kann. Er behauptete, dass der Angriff auf die Ukraine nach 77 Jahren der erste Angriffskrieg in Europa sei. Die Aussage ist zum einen erschreckend, weil sie seine Unkenntnis über die jüngere Geschichte offenbart, zum anderen gehört sie natürlich in die ganze antirussische Propaganda, die schon seit Jahren eine Stimmung gegen das Land aufbaut, die jetzt unverblümt und ungehemmt zum Ausdruck kommt. Das ist gefährlich. Im übrigen verletzt diese Russophobie den Artikel 20 des Uno-Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der sowohl Kriegspropaganda als auch Hetze gegen andere Völker verbietet.
Können Sie erklären, worin Cassis' geschichtliche Unkenntnis liegt?
Es gab bereits in den 90er Jahren Kriege zwischen Slowenen und Serben, zwischen Kroaten und Serben, zwischen Bosniern und Serben. Die waren wohl in Europa, und alle Seiten haben Kriegsverbrechen begangen. Es kam aber schlimmer. Im März 1999 begannen die USA und die Nato einen Angriffskrieg gegen Serbien, ebenso auf der Basis von Fake News und vulgärer antiserbischer Propaganda. Natürlich ohne ein Uno-Mandat.
Aus völkerrechtlicher Sicht war die russische Invasion in die Ukraine am 24. Februar genauso eine Verletzung des Artikels 2(4) der Uno-Charta. Im Januar 1999 stellte die Nato ein Ultimatum, das für Serbien wie auch für jeden anderen Staat unannehmbar gewesen wäre. Die sogenannte Konferenz von Rambouillet in Frankreich formulierte keine Lösung der Spannungen zwischen Serbien und der sogenannten Kosovo Liberation Army (UČK). In Rambouillet verlangte die Nato das Recht, nicht nur im Kosovo, sondern auch in ganz Serbien «den Frieden zu sichern und die Sicherheit zu gewährleisten». Mit anderen Worten, Serbien hätte seine Souveränität an die Nato abgeben müssen, was kein souveräner Staat getan hätte. Als Serbien dies zurückwies, begann ein mehr als zweimonatiges Bombardement, das Serbien nach Aussagen der Nato in die «Steinzeit» zurückbefördern sollte. Das war ein eklatanter Bruch des Völkerrechts, an dem sich die Bundesrepublik Deutschland beteiligte. Niemand beklagte die vielen zivilen Opfer, keiner verlangte Sanktionen gegen die Aggressoren, niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Damals war ich Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses. Ich entsinne mich der Atmosphäre des Hasses gegen Jugoslawien und persönlich gegen Milošević. Die Dämonisierung Putins heute erinnert mich an die Enthumanisierung von Milošević. Es war obszön, was man im Fernsehen, vor allem im CNN konstatieren konnte.
Lässt sich das mit der Ukraine vergleichen?
Was den Bruch des Völkerrechts angeht sehr wohl. Was die Situation als solche anbetrifft, so war der Grund für den Angriff auf Serbien reine Machtpolitik der USA. Es gab keinen Konflikt zwischen Serbien und einem Nato-Land, sondern eine innerstaatliche Auseinandersetzung zwischen der UČK, der militärischen Organisation der Kosovaren, und der serbischen Armee. Die Nato hat dabei sowohl gegen die eigene Doktrin als auch gegen das Völkerrecht verstossen. Wo waren die Proteste und die Solidaritätsbekundungen mit der serbischen Bevölkerung? Als Verantwortlicher für Petitionen im Büro des Uno-Hochkommissars für Menschenrechte erhielt ich alle Beschwerden über den Konflikt zwischen den Serben und der UČK. Es gab auf beiden Seiten Verbrechen, mehr oder weniger im selben Ausmass. Es gab Terrorismus durch die UČK, die etliche Serben tötete, und es gab auch Repression gegen Albaner durch Serbien. Der Konflikt hielt sich aber in Massen, die Toten in der Periode 1989-98 waren ungefähr 1000 auf beiden Seiten.Schlimm, aber kein Grund für eine ausländische Intervention, die noch viel mehr Menschen töten würde. Mit Russland bestand seit 2014 ein mehr oder weniger offener Konflikt. Beide Länder (Ukraine und Russland) waren in die Auseinandersetzungen involviert. Die Schwarz-Weiss-Malerei in der Berichtserstattung über die Ukraine widerspiegelt die gleiche Desinformation und die Übertreibung wie im Falle des Krieges gegen Serbien.
Was war das Ziel der USA?
Die Intervention 1999 hatte nichts mit Menschenrechten zu tun – obwohl sie als sogenannt «humanitäre Intervention» getarnt wurde. Sie war aber rein geopolitisch. Die USA wollten Serbien als Verbündeter Russlands schwächen und im Kosovo – übrigens auf serbischem Territorium, ein weiterer Verstoss gegen das Völkerrecht – eine Luftwaffenbasis errichten, was sie auch getan haben. Das Camp Bondsteel hat eine Grösse von ungefähr 400 ha und stellt de facto die Besetzung des Gebiets dar.
Warum ist das alles vergessen?
Es ist nicht unbedingt vergessen. Man weiss es schlicht nicht, weil unsere Medien über (Kriegs-)Verbrechen der USA oder auch der Europäer kaum berichten und wenn, dann nur beschönigend.
War das der einzige Völkerrechtsbruch der westlichen Allianz?
Nein, 2003 haben die USA mit der Koalition der Willigen, übrigens mit sehr vielen ukrainischen Söldnern, völkerrechtswidrig den Irak angegriffen. Es gab kein Uno-Mandat, und es war ein Angriffskrieg auf einen souveränen Staat – wie der Einmarsch in die Ukraine ein schwerwiegender Verstoss gegen die Uno-Charta und damit gegen das Völkerrecht. Ich bezeichne die Aggression gegen den Irak geradezu als eine Revolte gegen die Uno-Charta, gegen die Nürnberger Prinzipien, gegen die Westfälische Ordnung. Es war eine brutale Vergewaltigung des Völkerrechts, die ein Land zerstörte und inzwischen mehr als eine Million Menschen das Leben gekostet hat. Es war ein Verbrechen gegen die Menschheit, das vom Internationalen Strafgerichtshof hätte unter Artikel 7 des Statuts von Rom untersucht und verurteilt werden müssen.
Wurden wegen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf den Irak Sanktionen gegen die Aggressoren verhängt?
Nein, nichts dergleichen. Deutschland und Frankreich, die zumindest offiziell sich geweigert hatten, am Krieg teilzunehmen, wurden von Bush geächtet. Er sprach nur noch vom «alten Europa», und es war eine gehässige Stimmung gegen beide Länder. «French fries» wurden z.B. in «freedom fries» umbenannt. Das ist zwar nur ein Detail, aber es zeigt die Stimmung, und dass die europäischen Staaten nicht wirklich unabhängig von den USA ihre Entscheidungen treffen können. Deutschland hat nämlich trotzdem den Überflug über sein Territorium erlaubt, und deutsche Soldaten haben sogar die US-Militäreinrichtungen in Deutschland bewacht, während US-Soldaten im Irak kämpften.
Wie haben die Menschen der kriegführenden Länder darauf reagiert?
In London und Manchester, Rom und Mailand, Madrid und Barcelona ging die Bevölkerung zu Millionen auf die Strasse und demonstrierte gegen den Krieg, auch in Berlin, Frankfurt und München gingen die Menschen auf die Strasse.
Kann man sagen, dass sich die demokratisch gewählten Regierungen dieser Länder an den Forderungen des Volks orientierten?
Nein, im Gegenteil. Die Regierungen scherten sich einen Dreck um den Volkswillen bzw. um die Demokratie. Jene Bürger, die nicht mitmachen wollten, wurden schnell als «unpatriotisch» abgestempelt oder gar als Verräter diffamiert. Die Entfaltung der Macht der Nato und der «Koalition» war total. Sie führten den totalen Krieg gegen den Irak – militärisch, psychologisch und propagandistisch. Kein Mensch wurde zur Rechenschaft gezogen. Mit Recht nannte der seinerzeitige Uno-Generalsekretär Kofi Annan diese Invasion «an illegal war».
Was war eigentlich mit Libyen 2011?
Hier gab es zwar eine Resolution des Sicherheitsrates (Nr. 1973) und ein Uno-Mandat zur humanitären Hilfe. Es klang nach Hilfe, aber was kam, hatte nichts mit der Resolution zu tun. Fünf Staaten hatten sich der Stimme enthalten, darunter China und Russland. Wenn sie geahnt hätten, was dann geschah, hätten sie sicherlich ihr Veto eingelegt. So wurde die Resolution angenommen. Sie wurde aber nicht dem Wortlaut entsprechend umgesetzt, sondern aus dem Errichten einer Flugverbotszone wurde ein vollständiger Krieg, der die Beseitigung der Regierung Gaddafi zum Ziel hatte und das Land bis heute, 11 Jahre danach, in ein völliges Chaos getrieben hat.
Wo waren damals die Proteste, und wer weiss das heute noch?
Darüber spricht heute kein Mensch mehr, aber man müsste die beteiligten Nato-Staaten alle zur Rechenschaft ziehen. In diesem Sinne muss man fragen, ob die Nato überhaupt eine «defensive» Allianz ist oder ein Instrument der Aggression. Wenn man sich die Verbrechen der Aggression, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit vor Augen führt, die im Namen der Nato begangen worden sind, muss man fragen, ob diese Organisation in die Kategorie des Artikels 9 des Statuts des Nürnberger Tribunals gehört – nämlich als «kriminelle Organisation».
Kommen wir auf die militärische Intervention Russlands in der Ukraine zu sprechen. Sie bestätigten den Völkerrechtsbruch.
Ja, es ist ein eindeutiger Verstoss gegen Artikel 2(4) der Uno-Charta, der einen militärischen Angriff auf ein anderes Land untersagt. Nur unter Kapitel VII ist es dem Sicherheitsrat erlaubt, einen militärischen Angriff völkerrechtlich zu legitimieren. Insofern ist das Vorgehen Russlands ein Völkerrechtsbruch. Aber – und das darf man nicht einfach unter den Tisch kehren – die Nato als Militärbündnis, das seine ursprüngliche Intention, nämlich als reines Verteidigungsbündnis zu fungieren, spätestens 1999 verlassen hat, kreist Russland immer weiter ein.
Gibt es dazu eine völkerrechtliche Bestimmung?
Dazu muss ich daran erinnern, dass Artikel 2(4)der Uno-Charta nicht nur den Angriff verbietet, sondern auch die Androhung. Der Text lautet: «Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.» Seit den 90er Jahren tut die Nato nichts ausser bedrohen. Die Expansion der Nato bis an die Grenze Russlands war und bleibt reine Androhung, brachiale Machtpolitik, imperiale Arroganz.
Wann begann dieser Prozess?
Bereits 1999, mit der Aufnahme der ehemaligen Verbündeten der UdSSR wie Polen, Ungarn und Tschechien. 2002 kamen dann weitere Ostblockstaaten und ehemalige Sowjetrepubliken wie z.B. die baltischen Staaten hinzu. Das steht alles im Widerspruch zum Versprechen, das die USA 1990 gegeben hatten. Es war zwischen dem US-Präsidenten George H. Bush und dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow vereinbart worden, dass es keine Ausdehnung der Nato nach Osten gebe. Die Worte des amerikanischen Aussenministers James Baker waren deutlich: «not an inch» nach Osten. Auch der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher bestätigte eine solche Abmachung.
Joe Biden negiert dieses Versprechen wie auch Antony Blinken.
Ja, das ist klar, das passt natürlich nicht in ihr Konzept. Sie wollen die Ukraine in die Nato bringen und somit weiter Richtung Russland vorrücken. Das ist genau das Bedrohungsszenario, das Putin wohl veranlasst hat, die Reissleine zu ziehen. Die Uno-Charta verbietet eben auch, dass ein Staat einen anderen bedroht. Und wenn wir uns die Landkarte anschauen, dann sehen wir an der Westgrenze Russlands eine systematische Einkreisung.
Wird das nicht in unseren Medien verharmlost und die Nato als «Wertegemeinschaft» dargestellt?
Wir haben nicht nur eine Lügenpresse. Wir haben eine Lückenpresse. Man stelle sich einmal vor, Mexiko schlösse ein Militärbündnis zusammen mit Russland und Kuba, und begänne damit, Raketen zu stationieren, die Ziele in den USA erreichen könnten. Wissen Sie, was dann passieren würde? Was Kuba anbetrifft, haben wir ein konkretes Beispiel aus der Geschichte: Die USA hat mit einem Atomkrieg gedroht, bis Chruschtschow damals einlenkte und sich aus Kuba zurückzog und die USA den Abzug der Raketen in der Türkei versprach, die direkt russische Städte bedrohten. Kleines Detail der Geschichte, US-Raketen in der Türkei stehen immer noch dort. Ein anderes Szenario könnte die Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung in Alaska durch Russland sein. Russland würde Geld geben und NGOs unterstützen, die Demonstrationen organisierten und auf eine Sezession Alaskas hinwirkten. In der Folge könnte sich Alaska für unabhängig erklären und ein Verteidigungsbündnis mit Russland abschliessen. Was würde wohl geschehen?
Nach der ungeheuren Medienwalze, der Schärfe des Tons und den enormen Sanktionen, die international ergriffen wurden, scheint Russland vollständig isoliert.
Nicht ganz. Es gibt noch Staaten, die sich weiterhin mit Russland verbunden fühlen, aber die Mehrheit der Staaten schliesst sich den USA an. Bemerkenswerterweise unterstützt der Präsident Mexikos Andrés Manuel López Obrador die Sanktionen gegen Russland nicht, um, wie er sagte, alle Gesprächskanäle offen zu behalten. Diese entscheidende Möglichkeit hat die Schweiz achtlos verspielt, indem sie die Sanktionen der EU ebenfalls mitträgt. Es ist ein riesiger Schaden, der für die Schweiz, aber auch in der Konfliktbeilegung angerichtet ist.
War es nicht nötig, dass die Schweiz hier Flagge zeigt?
Flagge zeigen schon, aber für die Neutralität, nicht für die Ukraine. Wo bleibt die Glaubwürdigkeit? Was denken sich die Politiker? Sie zerstören mit einem Handstreich ein über Jahrhunderte gewachsenes Gut, ohne sich über die langfristigen Konsequenzen Gedanken zu machen. Der Druck auf die Schweiz von Seiten der EU war hoch, aber das ist auch nichts Neues. In Ihrer Zeitung habe ich gelesen, dass 95% der Bevölkerung der Schweiz für die Erhaltung der Neutralität sind. Warum nimmt die Politik mehr Rücksicht auf andere Staaten als auf die eigene Bevölkerung? Die Schweiz ist als Neutraler immer einem Druck ausgesetzt. Das muss man aushalten, sonst kann man ein neutrales Land nicht vertreten. Es ist einfacher, sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen. So hat man die Kritik nur von einer Seite. Als Neutraler muss man es aushalten, wenn zwei unzufrieden sind. Aber ich stelle fest, die heutigen Verantwortlichen wollen gefallen und in der grossen Welt ankommen. Das kommt einer Verluderung der eigenen Grundsätze gleich.
Was müsste jetzt in der Ukraine geschehen?
Die Kämpfe sollten sofort eingestellt werden. Es gibt nur den Verhandlungstisch. Alles andere führt ins Verderben. Waffenstillstand und gemeinsames Ringen um eine verbindliche und tragfähige Friedensordnung. Die Waffen müssen schweigen. Der Irrsinn muss ein Ende haben. Russland zieht sich zurück, und die Nato gibt verbindliche Garantien, dass die Ukraine als neutraler Staat akzeptiert wird. Niemand erhebt Anspruch auf das Land. Die Vorschläge der Russen im Januar, die von der westlichen Allianz achtlos vom Tisch gewischt wurden, müssen ausdiskutiert werden. Es braucht jetzt ganz dringend vertrauensbildende Massnahmen. Nur so kann es einen dauerhaften Frieden geben. Das Provozieren des Westens muss ein Ende haben und das Völkerrecht muss wieder oberste Priorität geniessen.
Kann die Schweiz dazu etwas beitragen?
Ob die Schweiz als Mediator nach ihrem Verlassen der Neutralität noch in Frage kommt, werden die Konfliktparteien entscheiden müssen. Hoffen wir, dass die Schweiz auf den Pfad der Neutralität zurückfindet. Die Ukraine müsste auch einsehen, dass sie von den USA und der Nato instrumentalisiert wird. Die beste Lösung für die Ukrainer wäre, sich unilateral als neutral zu erklären, so dass sie künftig mit dem Westen und dem Osten in Frieden leben kann. Es geht nicht allein um die Sicherheit der Ukrainer oder gar Mitteleuropas – es geht um den Frieden in der ganzen Welt.
Herr Professor de Zayas, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
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«Wann wurde jemals ein Krieg durch Sanktionen beendet?»«Die Schweiz hätte den Weg der Verhandlungen gehen müssen» Interview mit Nationalrätin Yvette Estermann
Zeitgeschehen im Fokus Nach dem Entscheid des Bundesrats trägt die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland mit. Was bedeutet das für unser Land?
Nationalrätin Yvette Estermann Es verletzt die Neutralität, aber es stellt sich auch die Frage, wann wurde jemals ein Krieg durch Sanktionen beendet. Wen betreffen diese Sanktionen? Doch vor allem die Bevölkerung auf beiden Seiten. Sie betreffen sicher nicht die Mächtigen, auch nicht diejenigen, die die Sanktionen verhängt haben. Die bestehenden Probleme werden nicht angegangen, aber Menschen werden unter Druck gesetzt mit dem Ziel, gegen ihre Regierungen aufzustehen. Aber zuerst leidet die Zivilbevölkerung, deshalb bin ich nicht erfreut, dass der Bundesrat die Sanktionen beschlossen hat.
Warum sehen Sie keinen Sinn in den Sanktionen?
Weil die Sanktionen gegen die Bevölkerung gerichtet sind, sie verlieren z. B. ihre Arbeitsstellen. Aus humanitären Gründen bin ich dagegen. Besteht die Bevölkerung in Russland nicht aus Menschen? Wo ist die Solidarität mit der russischen Bevölkerung? Sind nur die Ukrainer Menschen, denen man helfen muss? Sehr viele Menschen werden in Russland unter den Sanktionen leiden, auch hier in der Schweiz. Es werden Arbeitsplätze in der Schweiz verlorengehen, und man fragt sich natürlich, ob das nicht noch mehr den Krieg befeuert.
Ist das Vorgehen des Bundesrats mit der Neutralität vereinbar?
Vor ein paar Jahren, als Bundesrätin Calmy-Rey den Begriff der aktiven Neutralität prägte, regte ich mich etwas auf. Inzwischen muss ich feststellen, dass das ganz harmlos war im Gegensatz zu dem, was wir heute von unseren Politikern hören. Die Schweiz muss sich bewusst sein, dass die Neutralität im Zweiten Weltkrieg ganz entscheidend für unser Land war. Wir verdanken diese unter anderem dem russischen Zaren, der in Frédéric-César de La Harpe einen Mentor und Lehrer aus der Schweiz hatte. Durch ihn fühlte sich der Zar zeit seines Lebens mit der Schweiz verbunden und setzte sich vor über 200 Jahren auf dem Wiener Kongress 1815 massgeblich für die völkerrechtliche Anerkennung der Schweizer Neutralität ein. Manchmal frage ich mich, wo das Bewusstsein darüber geblieben ist. Vielleicht muss die Neutralität erst verloren gehen, bevor man ihren Wert schätzen kann. Aber dann ist es in der Regel zu spät.
Was hätte die Schweiz tun sollen?
Sie hätte den Weg der Verhandlungen gehen müssen und nicht die Sanktionen des Westens übernehmen, die nichts anderes als eine Provokation darstellen. Anstatt sich mit den Konfliktparteien an einen Tisch zu setzen, hat man Sanktionen ergriffen. Sind diese tatsächlich das Mittel, um diesen Krieg zu beenden, um auf diesen Krieg zu reagieren? Giesst man damit nicht noch mehr Öl ins Feuer?
Der französische Aussenminister sagte, dass das russische Volk unter den Sanktionen leiden müsse. Was sagen Sie zu dieser Aussage?
Das ist die Strategie, die man verfolgt. Vor ein paar Jahren war ich in Moskau an einem Gesundheitskongress und habe mit den Menschen gesprochen. Ich bin sicher, dass viele Staatschefs hier im Westen Putin um die Unterstützung durch seine Bevölkerung beneiden. Ich habe nicht mit Politikern gesprochen, sondern mit der Bevölkerung. Sie alle zeigten Bewunderung für Putin, und das soll mit den Sanktionen geändert werden. Man will, dass die Menschen, die gestern noch zu ihm gestanden sind, sich heute gegen ihn auflehnen. Ein US-amerikanischer Senator hat dazu aufgerufen, Putin umzubringen, damit tue man Gutes für die Menschheit. Wenn so eine Stimmung herrscht, dass man dazu aufruft, Menschen zu töten, wohin soll das führen! So wird man keinen Krieg beenden.
Warum hat der Bundesrat diesen Schritt getan und den Weg der Neutralität verlassen?
Ich denke, dass der Bundesrat ein Opfer des Friedens und des Wohlstands ist. Wenn man immer auf der sonnigen Seite steht, sich nie dem kalten eisigen Wind entgegenstellen muss, knickt man beim ersten Sturm ein. Aber es ist nicht allein der Bundesrat. Schauen Sie sich das Parlament und grosse Teile der Bevölkerung an. Die Menschen sind zu wenig gewappnet für Krisensituationen.
Bei der älteren Generation ist das anders…
Ja, die älteren Menschen, die Entbehrungen und Not noch erlebt haben, zeigen eine gewisse Robustheit, auch einmal schwierige Zeiten zu durchleben. Das ist auch der Unterschied zwischen Ost und West. Dort waren die Menschen gewohnt, dem kalten Wind ausgesetzt zu sein. Hier im Westen ging es lange gut. Es fehlt die Erfahrung, mit einer Krise fertigzuwerden. Das haben wir bei Corona erlebt und jetzt bei der kriegerischen Auseinandersetzung. Auch dürfen wir die Medien nicht vergessen, die eine extreme Stimmung gegen Russland erzeugt haben. Der Westen hat sehr viel falsch gemacht.
Inwiefern?
Die Provokationen gegenüber Russland in den letzten Jahren und das Ignorieren der russischen Bemühungen für mehr Frieden und Zusammenarbeit hat jetzt zu Opfern auf beiden Seiten geführt. Das geht auch auf das Konto des Westens, insbesondere der Nato. Es ist nicht nur der Aggressor Putin, sondern der Westen ist schuld dran, dass es so weit gekommen ist.
Beim letzten Sicherheitsbericht der ETH finden 95 % der Bevölkerung die Neutralität äusserst wichtig. Warum haben die Menschen nicht darauf reagiert, als der Bundesrat die Sanktionen der EU übernommen hat und damit den Weg der Neutralität verlassen hat? Er selbst sprach ja sogar von einer Wende.
Die Menschen sehen die Konsequenzen nicht. Die Medien haben das gefordert und sekundiert. Die Menschen kennen die Geschichte zu wenig. Ich wünsche mir mehr geschichtliches Bewusstsein auch hier im Parlament. Wer kann in der aktuellen Situation jetzt noch Verhandlungen anbieten, und wer kann für Frieden sorgen?
Passt es nicht zum schleichenden Abbau der Neutralität?
Ja, ich kann mich erinnern, als ich noch zur Schule ging, dass die Schweiz immer wieder erwähnt wurde als ein Ort, an dem Friedensgespräche geführt wurden. Genf stand immer im Vordergrund. Das ist in den letzten Jahren weniger geworden. Das darf doch nicht sein, dass wir den grössten Schatz, den wir haben, um Menschen zu verbinden und für den Frieden zu wirken mit einem Handstreich weggeben, nur weil es Druck vom Ausland und den Medien gab. Ich möchte gerne wissen, wer jetzt bereit ist, Friedensgespräche zu führen, die auch von den Konfliktparteien akzeptiert werden. Die Schweiz ist schon weggefallen. Haben wir mit diesem Schritt den Krieg beendet und das Leid der Menschen gemildert? Nein, das haben wir nicht. Aber wir haben die Möglichkeit, für den Frieden zu wirken, achtlos verspielt.
Frau Nationalrätin Estermann, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
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«Die Neutralität ist ein Friedenskonzept»«Ein Schritt Richtung Nato wäre völlig falsch und verheerend» Interview mit Nationalrat Lukas Reimann
Zeitgeschehen im Fokus Welche Auswirkungen hat die Übernahme der EU-Sanktionen auf die Schweiz?
Nationalrat Lukas Reimann Es ist ein Bruch mit der bisherigen Aussenpolitik. Neutralität ist mehr, als sich nicht auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Die Neutralität ist ein Friedenskonzept. Man beteiligt sich nicht an Kriegen, schickt die eigenen Söhne nicht in den Tod. Dafür bietet man einen Ort, eine Plattform an, bei der sich die Konfliktparteien an einen Tisch setzen können, um zu verhandeln. Es muss einen Platz auf dieser Welt geben, der neutral ist und wo man sich treffen kann, um Zwistigkeiten zu verhandeln und schliesslich beizulegen. Es ist sicher kein Zufall, dass sich Biden und Putin vor einigen Monaten in Genf getroffen haben. Das nächste Treffen, soweit es eines geben sollte, wird kaum in der Schweiz stattfinden.
Warum nicht?
Weil wir seit der vollständigen Übernahme der EU-Sanktionen nicht mehr als neutraler Staat angesehen werden, weder von der Seite, auf die wir uns geschlagen haben, noch von der anderen Seite. Dabei geht es nicht darum, mit der Neutralität Geld zu verdienen, indem andere Länder mit Hilfe der Schweiz die Sanktionen umgehen können. Das würde ich auch nicht unterstützen. Aber es heisst auch nicht, dass man selbst Sanktionen ergreift. Letztlich war es ein Entscheid der EU, Sanktionen zu ergreifen, über deren Nutzen auch zu diskutieren ist, und nicht ein Entscheid der Schweiz.
Die Frage stellt sich natürlich, was und wem die Sanktionen nützen.
Ja, wenn man sich die Sanktionen, die gegenüber anderen Ländern ergriffen worden sind, anschaut, dann leidet am meisten die Zivilbevölkerung, und zwar immer die Ärmsten. Das sieht man in Syrien, im Iran, in Venezuela etc. Ich war während der Sanktionen im Iran. Die Menschen sagten, sie könnten alles kaufen, aber zu horrenden Preisen. Der Handel läuft über andere Staaten z. B. Dubai, und die wollen auch noch Geld damit verdienen. Aber, ob das dazu führt, den Konflikt zu verringern, ist fraglich. Es hat den Konflikt eher verschärft und im Falle von Iran die radikalen Kräfte gestärkt.
Die Idee mit Sanktionen die Bevölkerung gegen die eigene Regierung aufzubringen ist ein angelsächsisches Prinzip, das nicht einmal im Zweiten Weltkrieg funktioniert hat.
Wenn man meint, man könne Russland mit Sanktionen in Bedrängnis bringen, müsste die USA wohl erst einmal selbst von russischem Öl unabhängig werden. Sanktionen dort zu verhängen, wo es vor allem andere Länder trifft und die eigenen Bedürfnisse weiter gestillt werden können, ist doch äusserst fragwürdig.
Welche Rolle könnte die Schweiz jetzt einnehmen? Müsste man nicht aus den Sanktionen wieder aussteigen?
Der Schaden ist angerichtet. Ich weiss auch nicht, wie man da wieder herauskommt. Bei der Krim-Krise 2014 war die Position der Schweiz nicht schlecht. Wir hatten den OSZE-Vorsitz und versuchten, die Leute an einen Tisch zu bringen und zu verhandeln. Ich sehe die Schweiz nicht mehr als neutralen Verhandlungspartner. Es werden Staaten, die nicht auf der Liste der «unfreundlichen Staaten» aufgeführt sind, im Vordergrund stehen wie Israel, die Türkei oder gar Saudi-Arabien.
Was hat den Bundesrat dazu getrieben, diesen Weg zu gehen?
Cassis hat gesagt, wir wollen ein verlässlicher Partner für die westlichen Mächte bleiben. Man wird die Schweiz unter Druck gesetzt haben, ob von Brüssel oder Washington, von irgendwo kam der Druck. Dazu kommt noch die Mehrheit im Parlament. Am Anfang hat der Bundesrat noch gesagt: Wir bleiben neutral. Aber im Parlament war so eine Stimmung für die Übernahme der Sanktionen, dass der Bundesrat dem zuvorkommen wollte und bereits am Sonntag den Schritt vollzogen hat. Das Parlament trägt hier eine grosse Verantwortung für diese Entwicklung.
Damit ist der Uno-Sicherheitsratssitz wahrscheinlich noch weniger in Frage gestellt?
Für mich bleibt er ein Problem. Wegen der Frage der Neutralität war ich schon 2002 gegen einen Uno-Beitritt, obwohl man uns seitens des Bundesrats weisgemacht hat, dass es mit der Neutralität kein Problem sei und dass wir auf keinen Fall einen Sitz im Uno-Sicherheitsrat anstrebten. Wir haben noch all die Aussagen und Dokumente, die diese Versprechungen belegen. Heute schert sich niemand mehr darum. Er geht davon aus, dass das Volk «so dumm sei» und das schon längst vergessen habe. Die Abstimmung war damals ganz knapp zu Gunsten eines Uno-Beitritts ausgegangen, und es war die dritte Abstimmung seit der Gründung der Uno 1945. Zweimal hatte das Volk bereits Nein gesagt.
Ein weiterer Punkt ist, dass SP-Nationalrätin Seiler-Graf, die sich gegen den US-Kampfjet engagiert, wieder einmal eine Annäherung an das Kriegsbündnis Nato verlangt.
Ich muss sagen, in der heutigen Stimmung halte ich nichts mehr für ausgeschlossen. Ein solcher Schritt Richtung Nato wäre völlig falsch und verheerend. Neutralität hat zwei positive Aspekte: Erstens man wird nicht zur Konfliktpartei und gefährdet dadurch nicht die Sicherheit der Schweiz. Zweitens, man bietet die Guten Dienste an. Es ist sicher kein Zufall, dass der Hauptsitz des IKRK in der Schweiz ist sowie andere internationale Hilfsorganisationen wie die Uno etc. in unserem Land beheimatet sind. Es war klar, dass die Schweiz allen Opfern eines Konflikts hilft, unabhängig davon, ob das ein verletzter ukrainischer oder russischer Soldat ist. Die Schweiz muss sich jetzt überlegen, von welchem Land aus sie operieren will und schadet damit den leidenden Menschen vor Ort.
Herr Nationalrat Reimann, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
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Die Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich. von Dr. Christian Müller*
Die sieben Mitglieder der Schweizer Regierung – der Bundesrat, wie die Regierung in der Schweiz heisst – haben es am 28. Februar 2022 geschafft, in den Schweizer Geschichtsbüchern der Zukunft namentlich aufgeführt zu werden: Sie haben die 173 Jahre alte verfassungsmässige Neutralität der Schweiz beerdigt und Genf als international hochgeschätzten politischen Konferenzort liquidiert. Der EU wollte die Schweiz noch nie beitreten, sie bevorzugte immer bilaterale Abkommen oder, wie gerade jetzt wieder, Probleme auszusitzen und Distanz zu halten. Ihr Interesse galt immer nur dem Marktzugang zur EU. Und sogar die neuen Kampfjets für die Armee sollen nicht von einem Unternehmen in der EU, sondern von den USA gekauft werden.
Jetzt aber, am vergangenen Montag, hat der Schweizer Bundesrat beschlossen, die EU-Sanktionen gegen Russland vollständig zu übernehmen. Ausgerechnet die Sanktionen der EU, um der einen Seite des Konflikts massiv zu schaden.
Wie stolz war doch die Schweiz – seit 1848 verfassungsmässig ein neutraler Bundesstaat – in all den Zeiten auf ihre humanitäre Tradition, nachdem der Genfer Bürger Henry Dunant im Jahr 1863 das Rote Kreuz – das IKRK, wie es heute heisst – gegründet hatte. Wie stolz durfte die Schweiz darauf sein, zwischen international verfeindeten Ländern als Vermittler eingesetzt zu werden, USA/Kuba, USA/Iran, oder auch bis heute als militärischer Grenzwächter zwischen Nord- und Südkorea. Aber ausgerechnet jetzt, wo die russische Regierung aufgrund der von Russland geforderten und von den USA und der Nato verweigerten Sicherheitsgarantien – leider! – mit dem Angriff auf die Ukraine den USA und der Nato zu zeigen versucht, dass sie die weltweite Hegemonie der USA nicht akzeptiert und nicht akzeptiert, dass Länder an Russlands Grenzen von den USA gesteuert werden, wie es im Falle der Ukraine seit dem Euromaidan und dem Regime Change im Jahr 2014 der Fall ist – inklusive enge militärische Zusammenarbeit USA/Ukraine und inklusive massive Waffenlieferungen der westlichen Staaten an die Ukraine – ausgerechnet jetzt übernimmt die Schweiz pauschal alle EU-Sanktionen gegen Russland.
Genau in diesen schweren Tagen wäre nichts so dringlich erforderlich wie Vermittler, die keiner Seite zugehören. Die Schweiz wäre nach 2014 prädestiniert gewesen, der Ukraine zu zeigen, wie man auch mehrsprachig und mit unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen friedlich zusammenleben kann. Die damalige «Schweiz» wurde 1815 vom Wiener Kongress verpflichtet, neutral zu sein, damit die Alpenübergänge nicht in die Hände einer Grossmacht fallen. Die Schweiz hätte – der eigenen Geschichte Folge leistend – der Ukraine zeigen können, wie man als neutraler Brückenstaat zwischen den Grossmächten sogar sehr erfolgreich leben und wirtschaften kann. Sie hat es nicht gemacht. Aber jetzt, wo ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei Grossmächten in nächster Nähe stattfindet, vergisst man die Erfolgsgeschichte des neutralen Staates und übernimmt die Sanktionen der EU gegen Russland vollständig. Selbst der russische Aussenminister Lawrow darf nicht mehr nach Genf zu Verhandlungen reisen. China, Indien (!), Afrika und ganz Lateinamerika haben begriffen, dass es in der Ukraine nicht um die Ukraine geht, sondern um einen Krieg gegen den Anspruch der USA, die ganze Welt zu beherrschen. Sie alle haben deshalb keine Sanktionen gegen Russland ergriffen, weil auch sie keine Weltherrschaft der USA befürworten.
Ich bin studierter Historiker und habe die West-Ost-Konflikte der letzten 30 Jahre als Journalist aufmerksam verfolgt. In Bern hat man das offensichtlich nicht gemacht. Heute schäme ich mich für meinen roten Pass.
* Christian Müller, freier Journalist und Mitglied der Redaktionsleitung der Schweizer Internetzeitung «Infosperber». Anfang März kündigte Infosperber die langjährige Zusammenarbeit mit ihm auf, weil er «keine Kritik an Putin» geäussert habe.
Wir danken dem Autor für die Abdruckgenehmigung.
Quelle: www.nachdenkseiten.de/?p=81474
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«Kriegslogik durch Friedenslogik ersetzen»Unverteidigte Städte im Ukraine-Krieg – eine Chance für den Frieden von Prof. Dr. Norman Paech*
Niemand weiss, wie der Krieg weitergehen wird. Ob und wann er mit einem Friedensabkommen beendet werden kann, ist ebenso ungewiss. Bis dahin aber, und darüber gibt es keine Zweifel, werden die Kämpfe stärker, die Opfer an Menschen zahlreicher und die Zerstörungen immer furchtbarer. Es wird zwar über die Einrichtungen humanitärer Korridore aus den Städten gesprochen, aber sie schützen nicht vor der Zerstörung der Städte.
Es wird auf oberer und oberster politischer Ebene untereinander und mit Vermittlern gesprochen, aber wir wissen nicht worüber. Nur eines ist sicher. Die ökonomische und politische Konfrontation soll mit noch härteren Sanktionen verschärft werden, und der Widerstand gegen die russische militärische Übermacht, d. h. der Krieg, soll mit der Lieferung neuer und wirksamerer Waffen gestärkt und verlängert werden. Die Voraussetzungen für einen strategischen Kompromiss zwischen USA/Nato und Russland sind offensichtlich noch nicht gegeben. Die Ukraine liefert in diesem nach dem Untergang des Ostblocks 1989/1990 neuen kalten Krieg nur das bedauerliche heisse Schlachtfeld, welches allerdings im «Grossen Schachbrett» von Zbigniew Brzeziński schon vor 25 Jahren vorausgesagt worden war.
In der Friedensbewegung wird gefordert, die Kriegslogik durch eine Friedenslogik zu ersetzen: «Deeskalation, Diplomatie, sofortige Einstellung der Kriegshandlungen, Rückzug der Waffen, Verhandlung und Vermittlung zwischen den Konfliktparteien, Schutz und Stärkung des Völkerrechts, Schaffung einer europäischen und globalen Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas.» Alles alte Mahnungen, ein Reden gegen die Wand.
Es fragt sich doch: Gibt es für die Menschen auf diesem Schlachtfeld keine andere Alternative, als in dem blutigen Kampf um die strategische Oberhoheit im mehr oder weniger heroischen Widerstand unterzugehen? Die Vorstellung vom möglichen Frieden ist offensichtlich immer noch so sehr militarisiert, dass in ihnen Überlegungen einer Kapitulation oder der Erklärung zu «unverteidigten Städten» als blanker Defätismus undenkbar sind. Eine Kapitulation ist ein offensichtliches no go, auch weil der ehemalige ukrainische und moskaunahe Präsident Viktor Janukowitsch das vom gegenwärtigen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj gefordert hat. Wäre es aber nicht möglich, die Waffenstillstandsverhandlungen dadurch zu beschleunigen, dass die derzeit belagerten und am meisten gefährdeten Städte Kiew, Mariupol und Charkow, aber auch Odessa und andere Orte sich zu «unverteidigten Stätten» erklären? Die Haager Landkriegsordnung von 1907 hat diese Möglichkeit zum ersten Mal in Artikel 25 definiert: «Es ist untersagt, unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, mit welchen Mitteln es auch sei, anzugreifen oder zu beschiessen.» So allgemein und unscharf dieser Ausweg formuliert ist, er ist während des Zweiten Weltkriegs von zahlreichen Städten in der Angst vor der brutalen Kriegsführung der Nazi gewählt worden: Rotterdam 1940, Paris, Brüssel, Belgrad 1941, Rom 1943, Orvieto, Florenz, Athen 1944 etc. Nicht immer hat diese Erklärung die Städte vor der brutalen Zerstörung durch die deutsche Armee bewahrt. So wurden Rotterdam und Belgrad von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Noch kurz vor Kriegsende im April 1945 konnten sich zwei deutsche Städte, Ahlen und Gotha, erfolgreich vor den Angriffen der Alliierten durch ihre Erklärung zu «offenen Städten» schützen. Magdeburg hingegen erklärte sich am 7. April 1945 nicht zur «offenen Stadt» sondern zur Festung, die sich bis zum letzten Blutstropfen verteidigen würde. Nach einem schweren Luftangriff 12 Tage später wurde die Stadt nahezu dem Erdboden gleichgemacht und von den Amerikanern besetzt. 1977 wurde das Konzept vom 1. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 in Art. 59 fast wortgleich übernommen. Es wurden nur einige Voraussetzungen für die Erklärung in Absatz zwei hinzugefügt: So müssen alle Kombattanten sowie die beweglichen Waffen und die bewegliche militärische Ausrüstung verlegt worden sein. Militärische Anlagen oder Einrichtungen dürfen nicht zu feindseligen Handlungen benutzt werden. Behörden und Bevölkerung dürfen keine feindseligen Handlungen begehen. Schliesslich darf nichts zur Unterstützung von Kriegshandlungen unternommen werden.
In den Kriegen der Nachkriegszeit, vom Koreakrieg über den Vietnamkrieg bis zu den Kriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien spielten «unverteidigte Städte» als effektiver Schutz vor Zerstörung und Vernichtung faktisch keine Rolle. Das humanitäre Völkerrecht der Haager und Genfer Konventionen ging in den Kampfhandlungen regelmässig unter. Die zahlreichen Kriegsverbrechen wurden nur im Jugoslawienkrieg und dort vorwiegend nur gegen Serben, Kroaten, Kosovo-Albaner und Bosnier verfolgt. Die Seite der Angreifer, der Nato, blieb ungeschoren. Es war schliesslich ihr Gericht.
Das Konzept der «unverteidigten Orte» ist aus dem humanitären Völkerrecht nicht getilgt worden. Es ist vergessen worden. Was spricht dagegen, es jetzt wieder hervorzuholen? Die Vereinbarung eines Waffenstillstandes ist ungewiss und mag noch lange auf sich warten lassen. Die Opfer und das Leiden, Flucht oder Tod sind das Einzige, was die Menschen in den belagerten Städten mit Sicherheit erreichen werden. Sie haben faktisch nur die Wahl zwischen einer russischen Besatzung in einer halbwegs noch intakten oder weitgehend zerstörten Stadt. In der Kriegslogik mag die Übergabe der «offenen Stadt» als Feigheit vor dem Feind gelten, in der Friedenslogik ist es die Klugheit vor einem Gegner, mit dem man sich in einer verträglichen Form auch nach dem Krieg arrangieren muss – um der Menschen willen.
* Norman Paech, studierte Geschichte und Jura und war u. a. Professor für Politische Wissenschaft und Öffentliches Recht. Von 2005-2009 war er Mitglied des Deutschen Bundestags und aussenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE.
Quelle: www.norman-paech.de
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Syrien: «Das Land wird regelrecht ausgeplündert» Interview mit Karin Leukefeld*
Zeitgeschehen im Fokus Inwieweit hat sich die Lage in Syrien beruhigt? Was haben Sie nach Ihren beiden letzten Reisen dorthin für einen Eindruck gewonnen?
Karin Leukefeld Es gibt weiterhin militärische Auseinandersetzungen in Idlib, über die ab und zu berichtet wird. Auch die türkische Armee führt Angriffe im Norden und Nordosten des Landes durch, vor allem gegen Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die von den Kurden geführt werden. Vor kurzem hatten wir in Idlib auch einen gezielten Angriff der US-Armee auf einen Anführer von Al-Kaida, der dabei getötet wurde und mit ihm seine gesamte Familie und weitere Zivilisten. Die Uno hat diesen Vorfall kritisch kommentiert. Das sind die Frontlinien, die es aktuell gibt.
Die Truppen der Türkei sind immer noch auf syrischem Boden aktiv und verletzten damit die syrische Souveränität?
Ja, die Situation hat sich von Seiten der Türkei sogar verschärft. Sie hat sowohl den Norden Idlibs als auch das Gebiet westlich von Aleppo, Afrin, unter Kontrolle. Ein Gebiet, das zu etwa 80 % von Kurden bewohnt war und 2018 von der Türkei besetzt wurde. Heute leben dort dschihadistische Gruppen, die von der Türkei unterstützt werden.
Wie sieht das im Norden an der syrischen Grenze aus?
Nördlich von Aleppo gibt es einen Streifen entlang der Grenze, in dem die Türkei versucht, eine Pufferzone 30 Kilometer tief in das syrische Territorium hinein einzurichten. Das macht sie zum Teil mit dem Bau einer Mauer. Nördlich von Aleppo, an der Autobahn, die von Aleppo in die Türkei führt, liegt der Ort Azaz. Dort verläuft zudem eine wichtige Schmuggelroute vom Nordosten nach Idlib. Die Türkei hat südlich der Stadt teilweise eine Mauer gebaut. Menschen, die dorthin geflohen sind, kommen kaum mehr aus dieser Stadt heraus.
Wie begründet die Türkei diesen illegalen Schritt?
Sie sagt, es sei, um die Menschen vor den syrischen Kurden zu schützen, aber de facto ist es eine illegale Landnahme durch die Türkei. Es ist ein sehr fruchtbares Gebiet, in dem es sehr viel Landwirtschaft und vor allem Olivenhaine gibt. Olivenöl und Oliven sind ein wichtiger Bestandteil der syrischen Landwirtschaft und der Agrarindustrie. In den Gebieten, die die Türkei kontrolliert – das heisst, sie ist dort entweder militärisch präsent oder mit Gruppen vertreten, die sie militärisch oder wirtschaftlich unterstützt – versucht sie, in den Schulen die türkische Sprache durchzusetzen. Es soll die türkische Fahne gehisst und die türkische Währung eingesetzt werden. Es gibt Postämter, in denen türkische Briefmarken verkauft werden. Es ist wie eine Kolonialisierung.
Hier liegt ganz offensichtlich eine Verletzung der territorialen Integrität Syriens durch einen Nato-Mitgliedstaat vor. Wo wird das thematisiert?
Die syrische Seite bringt das immer wieder auf, auch die Russen haben das im Uno-Sicherheitsrat thematisiert. Aber in der Uno ist der Einfluss des Westens so gross, dass bestimmte Themen nicht an die Öffentlichkeit dringen. Die Türkei als Nato-Mitglied macht das natürlich auch mit der Rückendeckung des Westens. Der sieht nicht nur zu, sondern die EU nutzt diese Territorien, um Hilfsorganisationen dort zu unterstützen und so Einfluss zu nehmen.
Diese doppelten Standards, die teilweise in der Uno herrschen, sind unglaublich…
Ich hatte mit dem syrischen Aussenminister ein Gespräch, der auch auf diese Vorgänge aufmerksam machte. Er hob hervor, dass selbst Vereinbarungen, die man mit dem Westen treffe, nicht umgesetzt werden könnten. Das geschieht selbst bei der Uno-Sicherheitsratsresolution 2585, die im Sommer 2021 verabschiedet wurde und die die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe nach Idlib regelt, die es aus der Türkei immer noch gibt. In dieser Resolution ist aber auch festgehalten, dass es humanitäre Hilfe aus Syrien in die Gebiete geben soll, die von der Türkei kontrolliert und besetzt gehalten werden. Die Türkei verweigert das aber. Wenn diese Resolutionen, die zeitlich begrenzt sind, verlängert werden sollen, gibt es immer ein riesiges Medienspektakel. Und meistens heisst es dann, Syrien weigere sich, die grenzüberschreitende humanitäre Hilfe zuzulassen und hungere das eigene Volk aus. De facto ist es aber so, dass diese Hilfe, die in Gebiete unter der Kontrolle der Türkei kommt oder auch zu den Kräften im Nordosten des Landes, von politischen Akteuren genutzt wird. Diese Hilfe wird teilweise verkauft.
Wie geschieht das?
Die bewaffneten Gruppen in Idlib eignen sich diese Güter an, kontrollieren diese und verkaufen sie nachher an die notleidende Bevölkerung. Es gibt Berichte von den USA, die das untersucht haben und deswegen Lieferungen teilweise eingestellt haben, aber die EU ändert nichts an ihrer Praxis.
Es gab doch den Vorschlag, dass die Türkei gemeinsam mit Russland Patrouillen durchführen sollte. Wird das gemacht?
Ja, diese Patrouillen gibt es tatsächlich entlang der Autobahn von Aleppo nach Mosul. Das ist eine strategisch wichtige Verbindung. In Idlib gibt es die Patrouillen ebenfalls. Auch hier verläuft eine Autobahnverbindung zwischen Aleppo und Latakia. Das ist die grosse Hafenstadt im Westen des Landes. Diese Vereinbarung wird immer wieder durch Angriffe unterminiert, vor allem auf den russischen Teil der Patrouillen. Das sind Dschihadisten, die diese Angriffe durchführen.
Können die Patrouillen so ihre Aufgabe überhaupt wahrnehmen?
Das ist ein ständiges Hin und Her. Die Patrouillen werden nicht akzeptiert und darum immer wieder zur Zielscheibe. Es ist schwierig und mit ständigen Hindernissen verbunden, aber für Russland ist es eine Möglichkeit, die Türkei einzubinden. Die Politik Russlands in Syrien ist eine Gratwanderung.
Wie stellt sich das Leben für die Menschen in Syrien nach nahezu 11 Jahren Krieg dar?
Die Lage der Bevölkerung ist schlecht, besonders die Versorgungslage. Die Inflation ist sehr hoch, die Preise für Grundnahrungsmittel steigen fast täglich. Es ist schwierig, Arbeit zu finden. Manche Personen haben drei oder vier Jobs am Tag. Sie nehmen alles, auch wenn sie nur etwas austragen, um ein bisschen Geld zu verdienen, damit sie die Familie ernähren können. Durch die Inflation ist vieles sehr teuer geworden.
Wie steht es denn um die Energieversorgung im Land?
Die Versorgung mit Strom, Heizöl, Gas – damit wird in Syrien gekocht – ist ausserordentlich schlecht. Die Energieträger sind teuer. Bisher hat die Bevölkerung eigentlich – und das nahezu seit der Gründung der Syrischen-Arabischen Republik – die Grundnahrungsmittel, aber auch Benzin subventioniert bekommen. Das heisst, es gab feste Preise. Dafür brauchte es früher ein Familienbuch, jetzt hat man eine Smartcard eingeführt. Diese Unterstützung hat der Staat gerade jetzt beendet. Er kann das nicht mehr finanzieren.
Ist das ein Resultat der ganzen widrigen Umstände?
Um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, muss der Staat die Grundnahrungsmittel sowie Öl und Gas importieren und dafür bezahlen.
Warum das?
Weil dem Staat der Zugriff auf die eigenen Ressourcen verwehrt bleibt. Syrien hat genug Weizen, Syrien hat genug Gas, aber diese Gebiete liegen im Nordosten des Landes und werden von den SDF, den Kurden und den USA besetzt gehalten und kontrolliert.
Die grössten Ölfelder in Rmeilan und das Omari-Ölfeld sind ausgedehnte Gebiete, in denen Öl zu finden ist. Dort befinden sich US-amerikanisches und kurdisches Militär, genauer gesagt die kurdisch geführten SDF. Die grossen Weizengebiete nördlich des Euphrat in Hassakeh und in Raqqah werden von den gleichen Kräften kontrolliert. Die Öl-Ressourcen, die lange Zeit wild geplündert wurden, haben zu einer immensen Umweltverschmutzung geführt, über die niemand bei uns berichtet. Im Jahr 2020 hat ein US-amerikanisches Unternehmen mit den SDF einen Vertrag ausgehandelt, um dort in Rmeilan eine Raffinerie aufzubauen. Sie sollen dort Öl fördern, es säubern sowie raffinieren, um es anschliessend zu verkaufen. Es ist aber eine syrische nationale Ressource.
Heisst das, das Land verfügt nicht mehr über seine überlebenswichtigen Ressourcen?
Ja, das Land wird regelrecht ausgeplündert. Die einzigen, die das immer wieder thematisieren und auf das Unrecht hinweisen, sind Syrien selbst und die Russische Föderation. Es gibt zumindest einen Bericht von US-Aid, die staatliche Entwicklungshilfeorganisation des US-Aussenministeriums, die ganz klar sagt, dass die Sanktionen dazu führen, dass eine immense Inflation besteht und auf der anderen Seite der Schwarzmarkt und der Schmuggel gefördert werden.
Was geschieht mit dem geplünderten Öl?
Hier haben wir den gleichen Vorgang wie mit dem Weizen. Das Öl wird verkauft. Es gelangt zunächst über die Nordost-Grenze in den Nordirak und von dort in die Türkei. Diejenigen, die das Öl befördern, sind kurdische oder amerikanische Geschäftsleute, die dafür sorgen, dass es sichere Transportwege gibt, damit es mit Tanklastwagen herausgebracht werden kann. Das Öl wird z. B. auch nach Idlib geliefert sowie in die von der Türkei gehaltenen Gebiete westlich und nördlich von Aleppo.
Wie kommt nun der Staat, der der rechtmässige Besitzer des Öls ist, zu seinem benötigten Erdöl?
Syrien importiert Öl aus dem Iran, was auch schon behindert wurde. Erinnern wir uns an die Festsetzung des iranischen Öltankers Grace 1 durch britische Sondereinheiten vor Gibraltar im Sommer 2019. Das geschah auf Anordnung der USA. Das Schiff wurde 6 Wochen lang festgehalten, bis ein Gericht dieses Piratenstück für illegal erklärte.
Und wie ist es mit dem eigenen Öl?
Ein syrischer Geschäftsmann kauft dort im Nordosten Öl ein und verkauft es dann an die syrische Regierung. Der Staat muss also für sein eigenes Öl bezahlen. Ich habe diese Transporte mit eigenen Augen gesehen. Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, traute ich meinen Augen kaum. An der Grenze bei Manbij standen über 100 Tanklastwagen. Es kam einem vor wie eine Fata Morgana. Heute ist das formalisiert. Die LKWs fahren auf bestimmten Wegen, die bekannt sind. Auf diese Weise versuchen alle, von diesem Öl, das – wie gesagt – dem Staat Syrien gehört, zu profitieren. Die Geschäftsleute, die diesen Handel betreiben, können Einfluss auf die politischen Akteure nehmen. Die syrische Regierung ist de facto auf diese Geschäftsleute angewiesen, die das Öl einkaufen und an die Regierung weiterverkaufen.
Als der IS das Gebiet besetzt gehalten hatte, so erzählte mir ein türkisch-kurdischer Journalist vor einiger Zeit, hätten sie das Öl ausgebeutet und mit Tanklastwagen an die türkische Grenze gebracht und dort verkauft…
Ja, genau so war es. Als ich 2012, zu Beginn des Krieges, in Syrien war, traf ich Ingenieure, die in diesem Gebiet auf den Ölfeldern gearbeitet hatten. Dort gab es eine gut ausgebaute Infrastruktur für die Ingenieure und ihre Familien: Wohnanlagen, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten usw. Die Ölfelder waren vor dem Krieg in den Jahren bis 2010/11 von internationalen Ölfirmen komplett renoviert worden. Die syrische Bevölkerung, die dort gelebt und gearbeitet hatte, wurde von der «Freien Syrischen Armee» (FSA) vertrieben. Sie waren also Binnenflüchtlinge, die ich in der Nähe von Damaskus in einem Fussballstadion traf, in dem sie untergebracht waren. Nach der FSA hat die Nusra-Front die Ölfelder besetzt und 2014 kam der IS und hat das Öl gefördert. Die USA bombardierten mit Kriegsschiffen vom Persischen Golf aus die Ölanlagen mit der Begründung, dort sitze der IS und den müsse man jetzt vertreiben. Die Anlagen waren danach natürlich zerstört und die Umwelt massiv in Mitleidenschaft gezogen. In der Folge kamen die Kurden zusammen mit den USA in diese Region. Seitdem sind die Ölanlagen unter der Kontrolle der SDF, der Kurden und der USA.
Von diesem Vorgang und den ganzen Folgeschäden für Mensch und Umwelt spricht niemand.
Das ist leider so. Ich habe bei meinem letzten Besuch von einem Ingenieur, der die Umweltverschmutzung fotografiert hat, Fotos erhalten. Es ist verheerend. Wenn der Staat wieder die Kontrolle über diese Gebiete übernehmen kann, wird es eine grosse Anstrengung brauchen, diese Verschmutzung zu beseitigen, und das kostet viel Geld. Die Auswirkungen sieht man auch in Damaskus. Es gibt unzählige Personen, die schwer an Krebs erkrankt sind. Sie kommen vornehmlich aus Hassakah und Deir ez-Zor nach Damaskus, um sich medizinisch behandeln zu lassen. Die gesundheitlichen Folgen dieser Verschmutzung sind enorm.
Hat sich trotz dieser Umstände das Leben der Menschen etwas «konsolidiert»?
In gewisser Weise schon, aber auf einem unerträglich niedrigen Niveau. Die Menschen können sich bewegen, sie sind nicht mehr in Gefahr durch kriegerische Auseinandersetzung, aber die Armut ist sehr hoch. Es gab Proteste, als der Staat die Subventionierung für die meisten Menschen in Syrien eingestellt hatte. Auch in den Medien und den sozialen Medien gab es Interviews, bei denen die Empörung darüber deutlich wurde. Aber auf der anderen Seite weiss die Bevölkerung auch, in was für einer schwierigen Lage die Regierung sich befindet.
Gibt es einen Aufbau von ziviler Infrastruktur?
Bereits nach 2016, als Aleppo wieder unter der Kontrolle der Regierung stand, hat man Strassen, Brücken, die Wasserversorgungssysteme, die Elektrizität und Krankenhäuser wieder hergestellt. Aber das geht natürlich alles sehr langsam, weil wenig Geld zur Verfügung steht. Gerade bei Krankenhäusern ist es sehr schwierig, die nötigen Gerätschaften zu besorgen, weil Syrien auch nicht die nötigen Devisen besitzt, und das alles zusätzlich zu den bestehenden Sanktionen. Auffällig ist auch, dass sehr wenig Wohnraum wieder hergestellt worden ist. Die Zerstörungen in Homs, in Damaskus und Aleppo sind weiterhin vorhanden.
Woran liegt das?
Es hat damit zu tun, dass es sehr viel privaten Wohnraum gibt von Menschen, die geflohen sind. Von der Gesetzeslage ist es schwierig, dort tätig zu werden. Ausserdem fehlt das Geld. Der Staat will, dass der Westen hilft oder auch die Golfstaaten, die durch die Unterstützung der bewaffneten Gruppen massgeblich zur Zerstörung beigetragen haben. Man sieht privaten Aufbau. Das geschieht durch Privatpersonen, die Geld haben und Häuser wieder errichten oder Geschäfte wiederherstellen, aber nur sehr wenige. Auffällig ist, dass Teile der Altstadt von Aleppo restauriert werden: Moscheen und Kirchen. Dafür scheint Geld vorhanden zu sein, das von aussen kommt. Wenn man die Situation der Bevölkerung sieht, fragt man sich natürlich, warum Moscheen wieder aufgebaut werden, aber nicht die Wohnhäuser. Es ist eine ganz schwierige Lage. Dazu muss man sagen, dass Gebiete mit Hilfsgeldern und Aufbauprojekten unterstützt werden, die nicht unter der Kontrolle der syrischen Regierung stehen.
Wer ist daran beteiligt?
Die EU, Deutschland, die USA haben mit einigen Golfstaaten Fonds aufgelegt, um in diesen Gebieten die zivile Infrastruktur wieder aufzubauen. Das gilt aber nur für die Gebiete, die nicht von Syrien kontrolliert werden. Im kurdischen Gebiet werden z. B. Krankenhäuser gebaut oder Gas- und Stromleitungen gelegt, Strassen wiederhergestellt etc. Die ökonomische Lage in den kurdischen Gebieten, die auch nicht durchgehend kurdisch sind, wird von der Bevölkerung als sehr viel besser beschrieben als in dem Rest des Landes, weil sie, gelinde gesagt, mehr Geld zur Verfügung haben und z. B. das Öl viel billiger bekommen. Viele arbeiten auch für die USA oder für ausländische NGOs oder die SDF. Da werden ganz andere Gehälter bezahlt.
Aufgrund Ihrer eindrücklichen Schilderungen scheint mir die Lage wenig aussichtsreich. Gibt es nirgends kleine Fortschritte?
Info: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-4-vom-15-maerz-2022.html#article_1306