seniora.org, 08. August 2023, Alex Krainer 22.03.2023 - übernommen von alexkrainer.substack.com
Sie können ALLE Flugzeugträger der USA auf einmal versenken.
Wenn es um militärische Fragen geht, verfolge ich eine Handvoll Analysten, von denen sich der kroatische Admiral im Ruhestand, Davorin Domazet, als mein Favorit herausgestellt hat. Er verfügt über ein umfassendes und detailliertes Wissen in technischen Fragen (wie Andrej Martjanow besteht er darauf, dass man in der modernen Kriegsführung ohne umfassende Kenntnisse in fortgeschrittener Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht bestehen kann). Noch wichtiger ist, dass er vielleicht das klarste Verständnis für den breiten historischen Kontext des heutigen Konflikts zwischen Russland und den Westmächten hat.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde, diesen Artikel veröffentliche ich mit gemischten Gefühlen. Ich lehne Waffen grundsätzlich ab, ich brauche keine, habe nie eine besessen und hatte das Glück ein sog. «weisser Jahrgang» (1930) zu sein, d.h. zu Beginn des WK2 zu jung und später zu alt, um in Deutschland zum Militärdienst eingezogen zu werden. Weil mich technischer Fortschritt interessiert, merke ich aber, dass mich die Hyperschall-Waffen irgendwie faszinieren, vielleicht auch, weil sie sich meiner Meinung nach auf der «richtigen» Seite befinden und (hoffentlich) dazu führen, den unsäglichen Ukrainekrieg rasch zu beenden. Dass überragende Waffentechnik allerdings dazu führen wird, die Menschheit vom Krieg zu befreien, denke ich nicht.
Dass eine Befreiung des Menschen vom Krieg möglich ist, darauf haben meine Frau und ich immer wieder hingewiesen, z.B. mit der «Erklärung von Sevilla zur Gewalt» oder mit dem wunderbaren «Geleitwort zum Buch ‘Grosse Pädagogen’». Der Mensch hat eine Sozialnatur und ist biologisch nicht zum Krieg verdammt. Das wissen wir inzwischen.
Aber etwas ist noch da, das verhindert, dass sich unsere Sozialnatur so stark entwickelt, dass es uns ganz komisch vorkommt, dass wir Präzisionswaffen entwickeln, viel Geld dafür ausgeben, um uns dann gegenseitig umzubringen. Die Wissenschaft der Psychologie ist noch jung, erst 120 Jahre alt.
Alfred Adler, der mit Freud seit 1902 zusammenarbeitete, sich 1911 von der Psychonalytischen Gesellschaft trennte, um die Psychologie, die er ‘Individualpsychologie’ nannte, weiter zu erforschen, hatte erkannt, dass der Charakter des Menschen nicht angeboren ist. So errichtete er in Wien in den 1920er Jahren viele Erziehungsberatungsstellen, weil er sah, dass die Eltern nicht über die Sozialnatur des Kindes informiert waren und man ihnen helfen musste, die gröbsten Erziehungsfehler (Strenge, Verwöhnung oder Vernachlässigung) zu vermeiden, damit sich das Kind in der menschlichen Gemeinschaft willkommen fühlen konnte. Er erfasste im «Gemeinschaftsgefühl» den wesentlichen Faktor, der den Menschen zum ‘Mitmenschen’ macht. Es gibt ein kurzes Video-Interview mit mir dazu.
Die Errichtung auf individualpsychologischer Grundlage arbeitender Erziehungsberatungsstellen wäre auch heute segensreich für alle jungen Eltern, denn alle wollen nur das Beste für ihr Kind und die meisten wären glücklich, eine vernünftige Anleitung kostenlos zu erhalten. Der Neurobiologe und Hirnforscher Joachim Bauer hat einmal in einem seiner Bücher diese Forderung aufgestellt, man solle neben jeder Schule auch gleich eine Erziehungsberatungsstelle einrichten. Das koste gut investierte Milliarden, die zum Wohle aller eingesetzt werden. Dieser Forderung schliessen wir uns gerne an. Warum diese gute Idee nicht freudig aufgegriffen wurde und wird, wäre ein schönes Forschungsprojekt: Was hindert uns, den Gedanken der Vererbung des Charakters und der Intelligenz einmal aufzugeben und uns den Erkenntnissen Alfred Adlers zuzuwenden? Herzlich Margot und Willy Wahl
Leider gibt Admiral Domazet nicht viele Interviews und keines in englischer Sprache, aber ich dachte, dass sein letztes Interview wichtig genug war, um es in diesem Artikel weiterzugeben.
Wenn Sie Kroatisch/Serbisch sprechen, können Sie das am 17. März 2023 veröffentlichte Interview unter diesem Link abrufen. Es dauert über 2 Stunden.
Der Kontext ist alles
Domazet ist der einzige mir bekannte Militäranalytiker, der die Geschichte der westlichen Finanzoligarchie berücksichtigt, ihre venezianischen Wurzeln, ihre Migration nach Amsterdam, wo sie das niederländische Imperium bildeten, und ihren anschließenden Umzug nach London, das bis heute das ideologische und geistige Hauptquartier des untoten britischen Imperiums ist.
Er hat den Feind der Menschheit richtigerweise als die "westliche okkulte Oligarchie" bezeichnet und den Krieg in der Ukraine sogar als Kampf zwischen Christus und dem Antichristen bezeichnet, wobei er unterstrich, dass der Antichrist im Westen sitzt. Wohlgemerkt, Kroatien ist ein NATO-Mitglied und wie Polen eine katholische slawische Nation, die sogar einen Teil ihrer kulturellen Russophobie teilt (auch wenn sie in Kroatien vielleicht nicht ganz so rabiat ist wie in Polen).
Über Russlands Hyperschall-Waffen
Der Teil von Domazets letztem Interview, den ich besonders interessant fand, war jedoch das, was er über Russlands Hyperschallwaffen erzählte.
Es war im Jahr 2018, als Wladimir Putin die Bühne betrat, um Russlands neue Hyperschallwaffen zu präsentieren. Der Begriff "Hyperschall" bezieht sich auf Raketen, die mit einer Geschwindigkeit von 5 Mach und mehr fliegen. Damals taten viele im Westen Putins Behauptungen ab und hielten sie für einen Bluff. Heute wissen wir, dass er nicht geblufft hat. Russland ist das einzige Land der Welt, das über einsatzbereite Hyperschallraketen verfügt – und zwar nicht nur eine, sondern gleich drei Typen: Zircon, Kinzhal und Avantguard.
Domazet erläutert, warum diese Waffen einen radikalen Wandel in der Kriegsführung darstellen. Im 1. Weltkrieg waren Panzer die bahnbrechende Militärtechnologie. Seit dem 2. Weltkrieg ist es die Luftwaffe. Flugzeugträger-Kampfgruppen waren eine unwiderstehliche Macht, wo immer sie auftauchten, und beherrschen seitdem die Meere. Doch Hyperschall-Präzisionsraketen haben diese Streitkräfte über Nacht obsolet gemacht.
Die wichtigste militärische Front im heutigen globalen Konflikt sind laut Domazet die Anti-Ballistik-Batterien (ABM), die die USA auf der Achse Polen-Rumänien und die Russen auf der Achse Nordpol-Kaliningrad-Krim-Syrien aufgestellt haben. Dabei handelt es sich um defensive Systeme, die dazu gedacht sind, ankommende Atomraketen abzufangen (obwohl sie leicht in offensive Atomraketen umgewandelt werden können). Die heutigen ABM-Systeme sind jedoch nur gegen Raketen wirksam, die mit einer Geschwindigkeit von bis zu Mach 3,5 (3,5 x die Schallgeschwindigkeit) fliegen.
Die Kinzhal verwandelt mächtige Flugzeugträger-Kampfgruppen in leichte Beute
Russlands neue Kinzhal-Rakete fliegt mit Geschwindigkeiten von Mach 12 bis Mach 15, und nichts in den westlichen Verteidigungsarsenalen kann sie aufhalten. Während des Krieges in der Ukraine hat Russland eine beeindruckende Demonstration seiner Macht inszeniert. Der erste Kinzhal-Schlag, der einen Monat nach Beginn der Feindseligkeiten in der Ukraine erfolgte, war vielleicht der bedeutendste: Die russischen Streitkräfte griffen ein großes Waffendepot in der Ukraine an, das zu Sowjetzeiten gebaut worden war, um einem Atomschlag standzuhalten. Es war 170 Meter unter der Erde vergraben und durch mehrere Lagen gepanzerten Betons geschützt.
Die Kinzhal fliegt in Höhen zwischen 20 und 40 km und hat eine maximale Reichweite von 2.000 km. Wenn sie sich über dem Ziel befindet, stürzt sie senkrecht ab und beschleunigt auf 15 Mach, wobei sie zusätzlich zu ihrer explosiven Nutzlast enorme kinetische Energie erzeugt. Dieser Erstschlag mit einer einzigen Kinzhal-Rakete zerstörte das atomwaffenfeste unterirdische Waffendepot der Ukraine. Dies war eine Botschaft an den Westen.
Moskau ruft: Wir können ALLE Eure Flugzeugträger versenken
Die Kinzhal wurde mit dem ausdrücklichen Ziel entwickelt, Flugzeugträger-Angriffsgruppen zu zerstören. Wenn sie ein Lagerhaus zerstören kann, das einem Atomschlag standhält, kann sie einen Flugzeugträger durchschneiden wie ein heißes Messer durch Butter.
Admiral Domazet zufolge verfügen weder die westlichen Mächte noch China auch nur annähernd über derartige Waffen. Er erklärte, dass das kritische Problem bei Hyperschallwaffen die extremen Temperaturen sind, die während des Hyperschallflugs auf der Oberfläche der Raketen erreicht werden, was dazu führen kann, dass sie während des Flugs auseinanderbrechen. Russland ist das einzige Land, das spezielle Materialien entwickelt hat, die es den Raketen ermöglichen, dieser Belastung standzuhalten, so dass ihr Flug über die gesamte Flugbahn hinweg kontrolliert und mit hoher Treffsicherheit durchgeführt werden kann.
Nach Schätzungen westlicher Geheimdienste verfügte Russland zu Beginn des Krieges in der Ukraine über etwa 50 Kinzhals, von denen es bisher [März 2023] nur 9 eingesetzt hat. Letzte Woche feuerten sie sechs Kinzhals in einer einzigen Salve ab. Auch das war eine Botschaft. Domazet erklärte dies folgendermaßen: Die Vereinigten Staaten verfügen über 11 Flugzeugträger-Kampfgruppen. Von diesen sind weniger als die Hälfte gleichzeitig aktiv (während andere zur Wartung im Dock liegen oder sich in Vorbereitung befinden). Sechs Kinzhals auf einmal abzufeuern ist Militärsprache für "wir haben die Fähigkeit, ALLE eure Flugzeugträger auf einmal zu versenken".
Russland wird jeden Moment die Munition ausgehen, (sagen Experten)...
Russland hat die Kapazität, etwa 200 Kinzhals pro Jahr zu bauen, und verfügt nun über Mittel, um Kinzhal- und Zircon-Raketen von Flugzeugen, Schiffen und U-Booten aus überall hin zu bringen. Sie können nicht nur Flugzeugträger zerstören, sondern auch die ABM-Raketenstationen der NATO. Kurz gesagt, Russland ist jetzt der klare Gewinner des Wettrüstens im 21. Jahrhundert.
Die westlichen Mächte könnten 10 Jahre oder länger brauchen, um aufzuholen, und bis dahin besteht die einzige Möglichkeit, den Krieg nicht zu verlieren, darin, entweder die Niederlage einzugestehen und Russlands Sicherheitsforderungen zu akzeptieren oder den Konflikt zu einem nuklearen Schlagabtausch zu eskalieren.
Nach einer vorsichtigen Schätzung würden in einem solchen Konflikt mindestens eine Milliarde Menschen umkommen, und niemand würde gewinnen. Wer würde so etwas tun? Der Gedanke an den Einsatz von Atomwaffen ist in der Tat so abstoßend, dass wir sicher sein können, dass unsere Führer niemals den Weg dieser Eskalation wählen werden. So böse ist doch sicher niemand, oder? Oder doch?
Quelle: https://alexkrainer.substack.com/p/why-hypersonic-weapons-change-everythingDie Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus
Info: https://seniora.org/index.php?option=com_acymailing&ctrl=url&subid=3998&urlid=4332&mailid=1862
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.
Weiteres:
Die Erklärung von Sevilla zur Gewalt (1986)
seniora.org, 08. Februar 2013
“Gewalt ist kein Naturgesetz - Biologisch gesehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt.“
Im «Internationalen Jahr des Friedens» 1986 wurde von 20 international renommierten Wissenschaftern das «Sevilla Statement on Violence» verabschiedet.
Bei allen eingehend untersuchten Gattungen wird der Status innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation sowie die Fähigkeit, bedeutende soziale Aufgaben für die Gruppe zu übernehmen, erworben. «Dominanz» setzt soziale Bindungen und Vereinbarungen voraus; auch wo sie sich auf aggressives Verhalten stützt, ist sie nicht einfach gebunden an den Besitz und die Anwendung überlegener physischer Kraft. Immer dann, wenn bei Tieren künstlich die Selektion aggressiven Verhaltens gefördert wird, führt dies schnell zu hyperaggressiven Verhaltensweisen dieser Individuen.
Dies ist ein Beleg dafür, dass eine ausschließliche Selektion der Aggression unter normalen Bedingungen nicht vorkommt. Wenn solche experimentell gezüchteten hyperaggressiven Tiere in eine soziale Gruppe eingeführt werden, stören sie entweder deren soziale Struktur oder sie werden vertrieben.
Gewalt ist weder Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt.
Wir halten es für unsere Pflicht, uns aus der Sicht verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen mit den gefährlichsten und vernichtendsten Aktivitäten der Menschheit zu befassen: mit Krieg und Gewalt.
Wir wissen, dass die Wissenschaft ein Produkt des Menschen ist, sie deshalb weder endgültig noch allumfassend sein kann.
Wir danken der Stadt Sevilla sowie den Vertretern der Spanischen Unesco-Kommission für die Unterstützung unseres Treffens. In Sevilla trafen sich Wissenschafter aus der ganzen Welt, die sich mit dem Thema Krieg und Gewalt beschäftigen.
Unsere wissenschaftlichen Befunde haben wir in der folgenden «Erklärung zur Gewalt» dargelegt.
In dieser wenden wir uns gegen den Missbrauch biologischer Forschungsergebnisse, die – auch von einigen Vertretern unserer Fachbereiche – zur Rechtfertigung von Krieg und Gewalt herangezogen wurden. Einige dieser Erkenntnisse, die wir als solche nicht bestreiten, haben das Aufkommen einer pessimistischen Grundstimmung in der Öffentlichkeit mitverursacht. Wir sind der Auffassung, dass die öffentliche und gut begründete Zurückweisung falscher Interpretationen von Forschungsergebnissen einen wirksamen Beitrag zum «Internationalen Jahr des Friedens» (1986) und zu künftigen Friedensbemühungen leisten kann.
Der Missbrauch wissenschaftlicher Theorien und Forschungsergebnisse zur Rechtfertigung von Krieg und Gewalt ist nichts Neues; er hat die gesamte Geschichte der modernen Wissenschaften begleitet. So wurde beispielsweise Krieg, Völkermord, Kolonialismus und die Unterdrückung von Schwächeren mit der Evolutionstheorie gerechtfertigt.
Wir stellen unsere Positionen in Form von 5 Aussagen dar, sind uns dabei aber bewusst, dass es vom Standpunkt unserer Fachbereiche aus noch zahlreiche weitere Fragen zu Krieg und Gewalt gibt.
Wir wollen uns auf 5 Kernaussagen, die wir für einen ersten wichtigen Schritt zur Erarbeitung einer umfassenden wissenschaftlichen Position halten, beschränken.
Verhaltensforschung
Die wissenschaftliche Aussage, der Mensch hätte eine Neigung zu kriegerischen Handlungen von seinen Vorfahren aus dem Tierreich geerbt, ist falsch.
Zwar kommen Kämpfe innerhalb des ganzen Tierreichs vor, doch gibt es nur wenige Berichte über Kämpfe zwischen organisierten Gruppen von Tieren, und bei keinem dieser Kämpfe wurden – als Waffen gedachte – Werkzeuge eingesetzt. Die normalen Verhaltensweisen von Raubtieren können nicht mit Gewalt innerhalb derselben Spezies gleichgesetzt werden. Kriegsführung ist ein spezifisch menschliches Phänomen, das bei Tieren nicht vorkommt.
Die Tatsache, dass sich das Führen von Kriegen im Laufe der Geschichte so radikal verändert hat, zeigt: Krieg ist ein Produkt der kulturellen Entwicklung. Biologisch gesehen hat Krieg mit Sprache zu tun, die es ermöglicht, Gruppen zu koordinieren, Technologien zu vermitteln und Werkzeuge zu gebrauchen. Aus der Sicht der Verhaltensforschung und Biologie sind Kriege möglich, jedoch nicht unvermeidbar, wie ihre unterschiedlichen Ausprägungen in verschiedenen Epochen und Regionen zeigen. Es gibt Kulturen, in denen über Jahrhunderte und andere, in denen nur zeitweise oder gar nicht Kriege geführt wurden.
Biologische Vererbungsforschung
Die wissenschaftliche Aussage, Krieg oder anderes gewalttätiges Verhalten sei in der menschlichen Wesensart genetisch vorprogrammiert, ist falsch.
Gene sind an den Funktionen des Nervensystems in allen Bereichen beteiligt; sie stellen ein Entwicklungspotential dar, das nur in Verbindung mit seinem ökologischen und sozialen Umfeld wirksam werden kann. Individuen haben sehr verschiedene genetische Vorgaben, die ihre persönlichen Erfahrungen beeinflussen; ihre Persönlichkeit bilden Menschen jedoch im Zusammenspiel ihrer genetischen Ausstattung mit den Bedingungen ihrer Erziehung. Mit Ausnahme einiger seltener pathologischer Fälle gibt es keine zwanghafte genetische Prädisposition für Gewalt; für das Gegenteil, die Gewaltlosigkeit, gilt dasselbe. Obwohl Gene an der Entwicklung menschlicher Verhaltensmuster und Verhaltensmöglichkeiten beteiligt sind, bestimmen sie alleine noch nicht deren Ergebnis.
Evolutionsforschung
Die wissenschaftliche Aussage, im Laufe der menschlichen Evolution habe sich aggressives Verhalten gegenüber anderen Verhaltensweisen durchgesetzt, ist falsch.
Bei allen eingehend untersuchten Gattungen wird der Status innerhalb einer Gruppe durch die Fähigkeit zur Kooperation sowie die Fähigkeit, bedeutende soziale Aufgaben für die Gruppe zu übernehmen, erworben. «Dominanz» setzt soziale Bindungen und Vereinbarungen voraus; auch wo sie sich auf aggressives Verhalten stützt, ist sie nicht einfach gebunden an den Besitz und die Anwendung überlegener physischer Kraft. Immer dann, wenn bei Tieren künstlich die Selektion aggressiven Verhaltens gefördert wird, führt dies schnell zu hyperaggressiven Verhaltensweisen dieser Individuen.
Dies ist ein Beleg dafür, dass eine ausschließliche Selektion der Aggression unter normalen Bedingungen nicht vorkommt. Wenn solche experimentell gezüchteten hyperaggressiven Tiere in eine soziale Gruppe eingeführt werden, stören sie entweder deren soziale Struktur oder sie werden vertrieben. Gewalt ist weder Teil unseres evolutionären Erbes noch in unseren Genen festgelegt.
Neurophysiologie
Die wissenschaftliche Aussage, das menschliche Hirn sei «gewalttätig», ist falsch.
Zwar verfügen Menschen über einen Nervenapparat, mit dem gewalttätige Handlungen ausgeführt werden können; diese werden jedoch nicht automatisch durch interne oder externe Stimuli aktiviert. Ähnlich wie bei höheren Primaten – im Gegensatz zu anderen Tieren – werden beim Menschen alle Stimuli durch übergeordnete Nervenprozesse gefiltert, ehe sie Handlungen auslösen. Unser Verhalten ist durch die Erfahrungen in unserer Umwelt und den Verlauf unseres Sozialisationsprozesses geprägt. Nichts in der Neurophysiologie des Menschen zwingt zu gewalttätigem Handeln.
Psychologie
Die wissenschaftliche Aussage, dass Krieg durch einen «Trieb», einen «Instinkt» oder ein anderes einzelnes Motiv verursacht sei, ist falsch.
Die Geschichte der modernen Kriegführung ist sowohl durch den Vorrang emotionaler Faktoren – die mitunter «Triebe» oder «Instinkte» genannt werden – als auch den Vorrang kognitiver Faktoren gekennzeichnet.
Krieg basiert auf einer Vielzahl von Faktoren: der systematischen Nutzung individueller Ausprägungen wie Gehorsam, Suggestion und Idealismus, sozialer Fähigkeiten wie der Sprache sowie rationaler Überlegungen wie Kosten-Nutzen-Rechnung, Planung und Informationsverarbeitung. Die Technologie der modernen Kriegsführung legt besonderes Gewicht auf die Förderung «gewalttätiger» Persönlichkeitsmerkmale sowohl bei der Ausbildung der Kampftruppen wie auch bei der Werbung um Unterstützung der Bevölkerung. So kommt es, dass solche Verhaltensmerkmale häufig fälschlicherweise als Ursachen und nicht als Folgen des gesamten Prozesses angesehen werden.
Schlussfolgerungen
Wir ziehen aus allen diesen wissenschaftlichen fachspezifischen Feststellungen den Schluss: Biologisch gesehen ist die Menschheit nicht zum Krieg verdammt; sie kann von falsch verstandenem biologischem Pessimismus befreit und in die Lage versetzt werden, mit Selbstvertrauen im «Internationalen Jahr des Friedens» (1986) und in den kommenden Jahren die notwendigen Veränderungen der herkömmlichen Sichtweise einzuleiten. Obwohl diese Aufgaben hauptsächlich institutioneller und gemeinschaftlicher Art sind, liegen sie doch im Bewusstsein jedes einzelnen begründet, das entweder von Pessimismus oder von Optimismus getragen sein kann.
Ebenso wie «Kriege im Geist der Menschen entstehen», beginnt auch der Friede in unserem Denken. Dieselbe Spezies, die den Krieg erfunden hat, kann auch den Frieden erfinden.
Jeder von uns ist dafür mitverantwortlich.
Erstunterzeichner
David Adams, Psychologie, USA – S.A. Barnett, Ethologie, Australien – N.P. Bechtereva, Neurophysiologie, UdSSR – Bonnie Frank Carter, Psychologie, USA – José M. Rodríguez Delgado, Neurophysiologie, Spanien – José Luis Díaz, Ethologie, Mexiko – Andrzej Eliasz, Differentielle Psychologie, Polen – Santiago Genovés, Biologische Anthropologie, Mexico – Benson E. Ginsburg, Verhaltensgenetik, USA – Jo Groebel, Sozialpsychologie, BRD – Samir-Kuma Ghosh, Soziologie, Indien – Robert Hinde, Verhaltensforschung, England – Richard E. Leaky, Physikalische Anthropologie, Kenia – Taha M. Malasi, Psychiatrie, Kuwait – J. Martin Ramírez, Psychobiologie, Spanien – Frederico Mayor Zaragoza, Biochemie, Spanien – Diana L. Mendoza, Ethologie, Spanien – Ashis Nandy, Politische Psychologie, Indien – John Paul Scott, Verhaltensforschung, USA – Riitta Wahlström, Psychologie, Finnland.
Die Erklärung von Sevilla zur Gewalt (1986) – Auszüge “Gewalt ist kein Naturgesetz
Biologisch gesehen ist die Menschheit
nicht zum Krieg verdammt.“
«Sich nicht an den Krieg gewöhn
en» ist die anspruchsvolle Aufgabe für die Gemüter zur Zeit der dritten Kriegsweihnacht (2003). Das heisst auch, sich zu erinnern, was schon alles erschaffen wurde zur Frage von Krieg und Frieden.
Im «Internationalen Jahr des Friedens» 1986 wurde von 20 international renommierten Wissenschaftern das «Sevilla Statement on Violence» verabschiedet.
Es erklärt aus der Sicht verschiedener Fachdisziplinen, dass Gewalt und Aggression keinem Naturgesetz folgen, und wendet sich damit gegen den Missbrauch der Wissenschaft zur Rechtfertigung von Krieg und Gewalt. Kriege entstehen im Geiste der Menschen. Der optimistische Tenor der Erklärung, die übrigens 1989 von der Unesco anerkannt und mittlerweile von mehr als 100 nationalen und internationalen wissenschaftlichen Verbänden und Vereinigungen unterzeichnet wurde, möge mithelfen, in diesen Tagen einen Ausblick zu erhalten.
Kriegsweihnacht 2003 Redaktion Zeit-Fragen
Quelle: Zeit-Fragen Nr. 48/49 vom 22.12.2003
Info:https://seniora.org/erziehung/die-soziale-natur-des-menschen/die-erklaerung-von-sevilla-zur-gewalt-1986
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.