Der Krieg der israelischen Armee in Gaza besiegt nicht den Terror

Alisdare Hickson from Woolwich, United Kingdom, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons
overton-magazin.de, 21. Februar 2024 Wolf Wetzel 32 Kommentare
Der Gazastreifen hat etwa die Fläche des Bundeslandes Bremen. Im Gazastreifen leben etwa zwei Millionen Menschen. Sie sind dort gefangen und vollständig der Macht der israelischen Armee ausgeliefert. Was unterscheidet Gaza von einem Konzentrationslager?
Redaktionelle Vorbemerkung: Das Wort »Konzentrationslager« erzeugt im Kontext deutscher Geschichte klare Vorstellungen. Im folgenden Text wird der Autor darauf zu sprechen kommen, dass es vor jenen unseligen deutschen Jahren schon Konzentrationslager gab – und so möchte er den Begriff auch verstanden wissen. Im Gespräch zwischen Redaktion und Autor verständigte man sich darauf, den folgenden Text trotz der historischen Konnotationen dennoch zu bringen. Die Redaktion hätte es vermutlich anders formuliert – und auch nicht von einem »Ausbruchversuch« der Palästinenser gesprochen.
Durchschnittlich 5.300 Menschen müssen sich einen Quadratkilometer Fläche teilen. Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo Menschen enger zusammenleben müssen.
Seit 1967 ist der Gazastreifen der israelischen Besatzungsmacht unterworfen. Die Besatzung ist auch nach dem Völkerrecht ein Verstoß gegen internationales Recht. Die einer Besatzung unterworfenen Menschen haben ein Widerstandsrecht, auch bewaffnet.
Im Jahr 2005 zogen sich die israelischen Besatzer aus dem Inneren des Gazastreifens zurück und schlossen Gaza von außen ein. Es gibt keinen freien Weg aus Gaza heraus, weder zu Wasser, noch auf dem Landweg. Zudem ist Gaza weitgehend von einer Gefängnismauer umgeben, die elektronisch und mithilfe von Polizei und Armee bewacht wird.
Diesen Umständen verdankt Gaza auch den Namen: das größte „Freiluftgefängnis“ der Welt.
Das Leben der Gefangenen in Gaza ist total von den israelischen Besatzern abhängig. Alles haben sie in der Hand, das Wasser, die Elektrizität, die Hilfslieferungen, Bewegungsfreiheit, die Lebensbedingungen.
Es gehört zum Alltag in Gaza, dass die israelische Armee Menschen ermordet, die sie „ausschalten“ will. Dazu gehört auch die Zerstörung von Wohnhäusern, wenn die israelische Armee festgelegt hat, das dort auch Hamas-Mitglieder leben.
150 Geiseln – Zwei Millionen Geiseln – 1.100 Geiseln
Die Menschen sind in Gaza (und im besetzten Westjordanland) einem besonderen Strafrecht unterworfen – der israelischen Militärgerichtsbarkeit. Zu dieser gehört eine sogenannte Administrativhaft, die ohne Gerichtsverfahren gegen „Verdächtige“ verhängt werden kann. Diese kann beliebig verlängert werden. Zu den „Verdächtigen“ können auch Jugendliche zählen. Offiziell sind 1.100 Gefangene mit diesem außergerichtlichen Status erfasst:
„Die Inhaftierten wissen in der Regel nicht, was gegen sie vorliegt und wie lange ihre Haft dauern wird. Maximal sechs Monate sind erlaubt, aber die Anordnungen können von den Militärkommandeuren immer weiter verlängert werden.“
(ndr.de vom 07.August 2023)
Es gab mehrere Ausbruchsversuche aus dem Gaza-Gefängnis – sie endeten alle mit noch mehr Zerstörung, noch mehr tote Menschen, Hunger und Elend.
Am 7. Oktober 2023 gab es einen weiteren Ausbruchsversuch. Mit ihm gingen Angriffe auf Polizei- und Armeeposten, Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung und die Geiselnahme von etwa 150 Israelis einher.
Die israelische Armee marschierte wieder in Gaza ein und zerstörte noch mehr, als in den Kriegen davor. Viele namhafte Regierungsvertreter und für die Regierung Tätige gaben ihre Absicht offen zu, eine „zweite Nakba“ (Vertreibung) zu unternehmen. Auch die Auslöschung der dort lebenden Palästinenser gehörte zu den Vernichtungsfantasien israelischer Politiker:
- „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen.“ (Premierminister Netanjahu am 8.10.2023)
- „Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit.“ (Daniel Hagari, Sprecher der israelischen Armee am 10. Oktober 2023)
- „Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist … Wir werden kämpfen, bis wir ihr Rückgrat brechen.“ (Präsident Jitzchak Herzog am 14. Oktober 2023)
- „Es wird keinen Strom geben, keine Lebensmittel, keinen Treibstoff, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend.“ (Verteidigungsminister Yoav Gallant am 9. Oktober 2023)
- Ich möchte der Welt sagen, was man über mich in Israel längst weiß: Gaza ist mir egal. Gaza ist mir im wahrsten Sinne egal. Sie können im Meer schwimmen gehen.“ (May Golan, Ministerin für die Förderung des Status von Frauen von Israel, am 13. Oktober 2023 im Interview mit ILTV)
- „Jetzt gibt es nur ein Ziel: Nakba! Ein Nakba in Gaza, die die Nakba von 48 in den Schatten stellen wird.“ (Ariel Kallner, Knesset Abgeordneter der Regierungspartei Likud auf X am 7. Oktober 2023)
- „Epidemien in Gaza sind gut für Israel! Schließlich werden schwere Epidemien im Süden des Gazastreifens den Sieg Israels erleichtern und die Zahl der Todesopfer unter den IDF-Soldaten verringern.“ (Giora Eiland, ehemaliger Leiter der Operations- und Planungsabteilung des Militärs und Chef des Nationalen Sicherheitsrats, Yedioth Ahronoth)
Die israelische Armee und die Netanjahu-Regierung erklärten die Vernichtung der Hamas zum obersten Ziel. Die Zivilbevölkerung solle sich im Süden Schutz suchen.
Dort leben seit Wochen etwa eine Millionen Menschen als Flüchtlinge. Es gibt dort nichts, denn die Menschen, die dort seit Jahren leben, haben nichts. Seit Wochen erklären UN-Organisationen die Situation im Gazastreifen als dramatisch und katastrophal. Die gewollte Tatenlosigkeit derer, die Israel unterstützen, ist grandios.
Die Hilfslieferungen, die tatsächlich in Gaza ankommen, sind ein Rinnsal. Für diesen sorgt die israelische Regierung, die gezielt Hilfslieferungen behindert bzw. verhindert. Es ist eine Strategie des Aushungerns, mit dem erklärten Ziel, die Gaza-Bewohner zur „freiwilligen“ Aufgabe ihrer Heimat zu zwingen.
Seit ein paar Tagen hat die israelische Regierung angekündigt, die Menschen auch dort anzugreifen, wohin man sie zuvor vertrieben hatte. Sie sollen sich in Luft auflösen.
Jetzt leben auf weniger als einem Fünftel des Gazastreifens über drei Viertel der Bewohner in Gaza.
Abermals kommt die Idee der Vertreibung ins Gespräch. Dieses Mal soll die UN und der ägyptische Staat, der bekanntlich ein Musterland der Demokratie ist, die Abwicklung der „Ausschaffung“ übernehmen.
Begriffsgeschichte für Unbegreifliches
Wenn wir das Wort Konzentrationslager (KZ) hören, verbinden wir es automatisch mit dem deutschen Faschismus, mit dem KZ in Auschwitz oder Dachau. Das ist verständlich und gewollt. Denn es waren nicht die Nazis, die die KZ‘s erfunden haben. Diesen rechtlosen Zustand, diese Art der Verfolgung und Demütigung haben eine koloniale und bürgerliche Vorgeschichte, die man extrem gerne vergessen möchte:
„Das Wort Konzentrationslager bezeichnete in verschiedenen Epochen verschiedener Länder mehrere Arten von Sammel-,Internierungs-und Arbeitslagern. Sammellager für Kriegsgefangene, Strafgefangenen- und Strafarbeitslager waren schon längere Zeit verbreitet, daneben entwickelte sich ab dem 19. Jahrhundert die Form des Internierungs- oder Auffanglagers im Kontext von Vertreibung, Auswanderung und kolonialistischer Eroberung. (…) m Deutschen Reich verwendete Reichskanzler Bernhard von Bülow den Begriff Konzentrationslager offiziell erstmals am 11. Dezember 1904 im Zusammenhang mit der Internierung gefangen genommener Herero. Als Robert Koch 1905 den Nobelpreis erhielt, verließ er seine Forschungsstation am damals britischen Viktoriasee und empfahl in einem Reisebericht über seine Untersuchungen zur Schlafkrankheit, medizinische „Konzentrationslager“ einzurichten, um Parasitenträger zu separieren. Damit nutzte er als erster den Begriff auch für den Quarantänefall. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden Staatsbürger der Mittelmächte für die Dauer des Krieges in Konzentrationslagern interniert, eine Praxis, die in allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Staaten üblich war. (…) Die ersten auch als „Konzentrationslager“ bezeichneten Einrichtungen entstanden in Deutschland um das Jahr 1920. So ließen etwa der preußische Innenminister Carl Severing (SPD) und dessen Nachfolger Alexander Dominicus (DDP) 1921 im Zuge der massenhaften Ausweisung von „Ostjuden“, aber auch Sinti, Jenischen und Roma zwei Konzentrationslager in Cottbus-Sielow und in Stargard in Pommern errichten, in die all jene zuvor Genannten eingewiesen wurden, die Deutschland nicht sofort freiwillig verließen. Aufgrund der unmenschlichen Bedingungen wurden diese Lager allerdings nach Protesten schon 1923 wieder aufgelöst.
Zur längerfristigen Einrichtung von Konzentrationslagern für politische Häftlinge, zunächst in ehemaligen Kriegsgefangenenlagern und Truppenübungsplätzen, kam es dafür ab Ende 1923 infolge der von Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) verhängten Reichsexekution gegen die aus SPD und KPD gebildeten Koalitionsregierungen in Sachsen und Thüringen.“
(Wikipedia)
Der Gazastreifen als KZ?
Was im Gazastreifen passiert ist die Schaffung eines Konzentrationslagers. Dazu braucht man keine Nazi-Vergleiche. Die israelische Regierung ist vielmehr in guter Gesellschaft all derer, die heute der israelischen Armee die Einhaltung des Völkerrechts attestieren.
Dazu gehört an vorderster Front die deutsche Bundesregierung.
Israel sei „ein Land, das sich den Menschenrechten und dem Völkerrecht verpflichtet fühlt und in seinen Aktionen auch dementsprechend handelt“.
Das erklärte der SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz am 14. November 2023.
Damit einher gehen weitere Waffenlieferungen an die israelische Armee, vor allem Munition werde dringend gebraucht.
In den 1970er und 1980er Jahren war die Parole oft zu hören:
„Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit, in aller Welt.“
Die Parole wurde auf zahlreichen Demonstrationen gerufen. Sie wurde von antimilitaristischen und internationalistischen, von christlichen und anarchistischen Gruppierungen gleichermaßen geteilt.
Und auch die Mitmachqualitäten, die damals angeprangert wurden, gehören heute mehr denn je zu den Eigenschaften, die die beklagte „80-jährige Zurückhaltung“ (nach Lars Klingbeil/SPD) überwinden sollen.
So hat die Tageszeitung „Die Welt“ die Ankündigung der israelischen Regierung, die Offensive auf den Süden des Gazastreifens auszudehnen, so kommentiert und begrüßt:
„Nach dem größten Massaker an jüdischen Zivilisten seit dem Holocaust hat Israel jedes Recht, sich zu verteidigen (…) Deshalb ist es vor allem der Terrororganisation zuzuschreiben, wenn bei der notwendigen Bekämpfung der Extremisten so viel Schaden angerichtet wird, weil die Hamas die eigene Bevölkerung im Gaza-Streifen und zivile Infrastruktur als Schutzschilde benutzt.
Es ist bezeichnend für den verrotteten Zustand internationaler Institutionen, dass kaum jemand das nahe liegende fordert, um diesem Krieg ein Ende zu bereiten. Denn der könnte morgen vorbei sein, würde die Hamas die Waffen strecken, die verbliebenen Geiseln freilassen und die Mörder des 7. Oktober ausliefern. Bis das geschieht, muss Israel tun, was notwendig ist, um die Geiseln zu befreien und die Terrorgefahr zu bannen. Und dazu gehört auch die Eroberung von Rafah.“
(welt.de vom 14.2.2024)
Dass die palästinensische Bevölkerung nicht von der Hamas gefangen gehalten wird, sondern von der israelischen Besatzung, stellt der Welt-Chefkorrespondent Außenpolitik wissentlich auf den Kopf. Und wer vom „Ende des Krieges“ redet und dabei nicht das Ende der Besatzung meint, deckt internationale Kriegsverbrechen, anstatt sie anzuprangern. Ganz absonderlich ist die vorgebrachte Klage gegenüber dem „verrotteten Zustand internationaler Institutionen“. Wer hat sie denn „verrotten“ lassen? Es sind doch in erster Linie jene Länder, die die fast 60-jährige Besatzung Israels unterstützen, decken und ermöglichen – und alles dafür tun, dass die „internationalen Institutionen“ absolut wirkungs- und machtlos die Einhaltung von UN-Resolutionen fordern.
Sich jetzt hinzustellen, als „Heimatkrieger“, und so zu tun, als ob die israelische Armee die „verrotteten internationalen Institutionen“ ersetzen müsse, ist an Perfidie kaum zu überbieten.
Der Krieg der israelischen Armee in Gaza besiegt nicht den „Terror“, sondern treibt ihn auf die Spitze
Auch hier lernt man abermals und mit großer Bitterkeit: Für die Idee und Einrichtung von KZ’s braucht man keine Nazis, keinen Faschismus. Für die Mithilfe bei dem, was man später nicht wissen konnte, braucht es nicht nur fanatische Krieger, sondern auch viele besonnene Mitläufer.
Wer Nazis und Faschismus wirklich bekämpfen will, muss dort anfangen, wo man ihnen den Weg ebnet. Jeder Vergleich mit der Gegenwart ist kein Zufall, sondern zwingend.
Quellen und Hinweise
Konzentrationslager (historischer Begriff): https://de.wikipedia.org/wiki/Konzentrationslager_(historischer_Begriff)#Lager_des_Ersten_Weltkriegs_und_der_fr%C3%BChen_Nachkriegszeit
Keine Anklage, kein Prozess: Administrativhaft in Israel, ndr.de 7. August 2023: https://www.ndr.de/nachrichten/info/epg/Keine-Anklage-kein-Prozess-Administrativhaft-in-Israel,sendung1367690.html
Darum muss Israel auch Rafah erobern, welt.de vom 14.2.2024: https://www.welt.de/debatte/kommentare/article250048000/Gaza-Krieg-Darum-muss-Israel-auch-Rafah-erobern.html?source=puerto-reco-2_ABC-V37.1.B_test
„Das Recht auf Selbstverteidigung“ in einem besetzten Land, Wolf Wetzel,2023: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/das-recht-auf-selbstverteidigung-in-einem-besetzten-land/
Wer hat zum x-ten Mal angefangen? Gaza – ein Gefängnis ohne Wärter, Wolf Wetzel, 2023: https://overton-magazin.de/kolumnen/kohlhaas-unchained/wer-hat-zum-x-ten-mal-angefangen-gaza-ein-gefaengnis-ohne-waerter/
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unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.