aus e-mail von Doris Pumphrey, 3. Mai 2024, 21:24 Uhr
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Deutsche WirtschaftsNachrichten 2. Mai 2024
<https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/708593/dwn-interview-ukraine-krieg-zehn-jahre-nach-dem-massenmord-von-odessa>
/Info zur Person: Dr. Lothar Schröter, geboren 1952, studierte von 1970
bis 1974 Geschichte und Russische Sprache an der Pädagogischen
Hochschule in Leipzig. Er absolvierte anschließend ein postgraduales
Studium der Militärgeschichte und arbeitete bis 1990 erst als
wissenschaftlicher Assistent am Militärgeschichtlichen Institut in
Potsdam, dann als promovierter und habilitierter Oberassistent und
Dozent. Bis zum Eintritt ins Rentenalter in der beruflichen Aus- und
Weiterbildung tätig. Zahlreiche Publikationen, darunter
„Militärgeschichte der BRD“ (1989), „Die NATO im Kalten Krieg“ (2009),
„USA – Supermacht oder Koloss auf tönernen Füßen?“ (2009) und „Künftige
Supermacht in Asien? Militärpolitik und Streitkräfte der Volksrepublik
China“ (2011). Sein jüngstes Buch //Der Ukraine-Krieg/
</ist" rel="noopener">https://www.eulenspiegel.com/verlage/edition-ost/titel/der-ukrainekrieg.html>/ist
in der Edition Ost der Eulenspiegel Verlagsgruppe erschienen. Seit 1996
ist Schröter Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Brandenburg e. V./
*Militärhistoriker Lothar Schröter im DWN-Interview:
**Die Folgen des Massenmords von Odessa 2014
/Teil I:/(Auszüge)**/
/*/Am 2. Mai 2014 ist es in der ukrainischen Stadt Odessa zu einem
Massenmord gekommen, bei dem fast fünfzig Menschen qualvoll ums Leben
gekommen sind. In den westlichen Medien fand der Vorfall seinerzeit
wenig Beachtung. Auch zehn Jahre danach wird die Bedeutung dieses
Ereignisses für die aktuelle politische Lage weiterhin unterschätzt. Die
DWN sprechen mit dem Militärhistoriker Dr. Lothar Schröter, welche
geopolitische Bedeutung der Krim und der Stadt Odessa zukommen.
/
Der Massenmord in der ukrainischen Stadt Odessa ist ein plakatives
Beispiel dafür, mit welcher Brutalität rechtsextreme Gruppierungen in
der Ukraine gegen Teile der eigenen Bevölkerung vorgehen. Darüber
sprachen die Deutschen Wirtschaftsnachrichten mit dem Militärhistoriker
und Major a. D. der NVA Dr. Lothar Schröter, dessen Buch Der
Ukraine-Krieg
<https://www.eulenspiegel.com/verlage/edition-ost/titel/der-ukrainekrieg.html>
kürzlich erschienen ist. Außerdem erläutert Schröter, welche
geopolitische Bedeutung der Krim und der Stadt Odessa zukommen und warum
es gerade Frankreich ist, das einen Einsatz seiner Truppen in der
Ukraine ins Spiel gebracht hat.
*DWN:* /Vor zehn Jahren kam es zu einem Anschlag auf ein
Gewerkschaftshaus in Odessa. Können Sie unseren Lesern in Erinnerung
rufen, wie es dazu kommen konnte?/
*Lothar Schröter:* Odessa war ein Zentrum des Widerstandes gegen den
Maidan-Putsch Ende 2013/Anfang 2014, aber auch eine starke Bastion der
prowestlichen, nationalistischen und auch teilweise faschistischen
Kräfte. Dennoch hatte es in der Stadt zunächst keine offensichtlichen
Gewaltakte zwischen den sich gegenüberstehenden Lagern gegeben.
Mitte Januar 2014 eskalierte die Situation, etwa parallel zur
Verschärfung der Lage in Kiew. Es gab massive Zusammenstöße zwischen
Demonstranten und Sicherheitskräften, z. B. in der Nähe des Gebäudes der
regionalen Staatsverwaltung von Odessa. Alles steigerte sich zu einer
harten Konfrontation zwischen den Verfechtern des so bezeichneten
Euromaidan und den Gegnern der nationalistisch-faschistischenKräfte,
welche auf dem Maidan in Kiew gegen die Janukowitsch-Führung aufbegehrten.
Ende Februar/Anfang März, als auch in Odessa Vertreter des neuen Regimes
die Oberhoheit beanspruchten, uferten die Ereignisse aus. Wie in der
gesamten östlichen und südöstlichen Ukraine verlangten auch in Odessa
die Gegner des Umsturzregimes, dass die russische Sprache im Lande wie
bisher benutzt werden darf, den Schutz der Rechte der russischsprachigen
Minderheit und eine Dezentralisierung der Macht in der Ukraine im Sinne
von Autonomieregelungen. Außerdem sollten gutnachbarschaftliche
Beziehungen zu Russland unterhalten und dem Rechtsextremismus
entgegengetreten werden.
Den Horror-Höhepunkt markierte dann der Massenmord am 2. Mai 2014.
*(…) **
*Es waren ukrainische Faschisten, vor allem des organisierten „Rechten
Sektors“, die das Gewerkschaftshaus in Brand steckten. Die Täter wurden
nie zur Verantwortung gezogen. Im Gegenteil wird das Verbrechen heute
sogar hochstilisiert zur Heldentat. Der ukrainische Abgeordnete der
nationalistischen Radikalen Partei Mossijtschuk erklärte am 2. Mai 2016
entsprechend: „Es wird eine Zeit kommen, in der der 2. Mai ein
nationaler Feiertag sein wird, denn an diesem Tag haben die Ukrainer den
ersten wirklichen Sieg im gegenwärtigen nationalen Befreiungskrieg
errungen.“ Und in einem Internet-Nachrichtenportal aus Odessa wurde am
7. Mai 2014 ein Vertreter des „Rechten Sektors“ mit den Worten zitiert:
„Der 2. Mai ist eine weitere leuchtende Seite unserer vaterländischen
Geschichte.“
*DWN: */Wie kommt es, dass gerade in der Ukraine neonazistische Gruppen
einen derart starken Einfluss haben?/
*Lothar Schröter: *Man muss zwischen der West- und der Ostukraine
unterscheiden und den Blick auf die Geschichte richten. Die Westukraine
gehörte mit dem Gebietsteil Galizien zur Habsburgermonarchie (bis zu
deren Zusammenbruch 1918), danach größtenteils zum wiedererstandenen
Polen. Galizien hatte den Blick vorrangig nach Westen – nicht nach
Russland – gerichtet, denn die nun wieder polnischen Teile des
Zarenreiches hatten zuvor unter der Knute des Zarismus noch viel mehr
gelitten als die anderen Teile unter österreichischer und deutscher
Herrschaft. Alles fruchtbarer Boden für Russophobie. Dies verschärfte
sich noch, als im Ergebnis des polnischen Aggressionskrieges gegen
Sowjetrussland zwischen 1918 und 1921 große Teile der Westukraine
erpresserisch von Sowjetrussland abgetrennt wurden. Sie gerieten unter
das Diktat des halbfaschistischen, antirussischen und besonders
antisowjetischen Regimes in Warschau, für das der Name Piłsudski
(1867-1935) steht.
Nach der Wiederherstellung der Curzon-Linie 1939, von den Westalliierten
am 8. Dezember 1919 als Demarkationslinie zwischen Sowjetrussland und
Polen verkündet, und besonders nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf
die UdSSR am 22. Juni 1941 erlebte die Russophobie im Kontext eines
insgesamt extremen Nationalismus in der Westukraine einen rasanten
Aufstieg, der seinen natürlichen Bündnispartner im deutschen Faschismus
fand. Die ukrainischen Nationalisten, die selbst nahtlos zu Faschisten
mutierten, wurden Helfershelfer der hitlerdeutschen Okkupanten. Sie
beteiligten sich am terroristischen Besatzungsregime, ermordeten
Tausende von Ukrainern, Russen, Polen, Juden und Angehörigen anderer
Nationalitäten, von Kommunisten, Partisanen und Widerstandskämpfern,
richteten blutige Massaker an.
Stellvertretend für diese Kriegsverbrecher und Massenmörder stehen
Stepan A. Bandera, Roman J. Schuchewitsch oder Jaroslaw S. Stezko.
Letzteren, der seit 1966 Ehrenbürger der kanadischen Stadt Winnipeg war,
empfingen 1983 USA-Präsident Reagan und sein Stellvertreter Bush als
„letzten Ministerpräsidenten eines freien ukrainischen Staates“ im
Weißen Haus, und am 11. Juli 1982 hatte die rot-schwarze Flagge der
ukrainischen Faschisten-Organisation OUN-B über dem Kapitol in
Washington geflattert. Noch lange nach der Befreiung 1945 setzten die
ukrainischen Faschisten ihren Terrorkrieg gegen Bevölkerung und Staat
fort. Erst 1954 wurden sie vorerst endgültig besiegt.
Die spätestens nach der „orangenen Revolution“ Ende 2004/Anfang 2005
einsetzende Verehrung für Bandera, Schuchewitsch, Strezko und andere
Faschisten, für ihren „nationalen Befreiungskampf“, öffnete das Ventil
für eine Faschisierung von Teilen der ukrainischen Gesellschaft. Nun
soll sogar in einem historischen Park in Kiew für sie ein „Nationales
Pantheon der Helden“ errichtet werden. Vor diesem gesamten Hintergrund
nimmt es nicht wunder, dass die Nationalisten und Faschisten in der
Westukraine die höchsten Wahlergebnisse verzeichnen. Ihre
parlamentarische Vertretung „Swoboda“ erreichte bei den Wahlen 2012, als
sie im gesamten Land gut 10 Prozent der abgegebenen Stimmen erlangte, in
den westlichen Regionen der Ukraine weitaus mehr, so im Gebiet Lwow über
38 Prozent oder in Iwano-Frankowsk fast 34 Prozent.
Außerdem ist der ideologisch verhetzende Einfluss von „Swoboda“ und
aller ukrainischen Rechtsextremen bis heute weitaus größer, als es die
Wahlergebnisse ausdrücken. Zu Iwano-Frankowsk noch: Zu dieser von einem
bekennenden Faschisten als Bürgermeister geführten Kommune nahm die
Landeshauptstadt Potsdam unter SPD-Oberbürgermeister Schubert 2023
bewusst eine Städtepartnerschaft auf.
*(…) **
*
*DWN:* /Welches ist die militärisch-strategische Bedeutung der Krim für
die Russische Föderation? Was wäre das Ergebnis gewesen, wäre Russland
von der Halbinsel vollständig verdrängt worden?/
*Lothar Schröter: *Zunächst muss man wissen, dass die russische
Seekriegsflotte fünf operativ-strategische Gruppierungen umfasst, von
denen jede einzelne (mit Ausnahme vielleicht der Kaspischen Flottille)
für Russland existenziell ist. Mit anderen Worten: Der Bedeutungsverlust
schon einer einzigen dieser Gruppierungen würde die
Verteidigungsfähigkeit des Landes insgesamt in Frage stellen, auf jeden
Fall aber die Rolle Russlands als Groß- und Weltmacht. Eine dieser
Gruppierungen ist die Schwarzmeerflotte.
Die militärischen Hauptbedrohungen Russlands mit Ziel auf sein Herz
kommen von Land direkt von Westen und von See her von Süden. Das hatte
sich schon im Bürger- und Interventionskrieg (1918-1922) und im Großen
Vaterländischen Krieg (1941-1945) gezeigt. Von dorther bestimmt sich nun
die überhaupt nicht zu überschätzende Rolle der russischen
Schwarzmeerflotte auch heute. Zusätzlich dazu ist es ihr Auftrag, dazu
beizutragen, dass Russland auf kurzem Weg Zugang zum Mittelmeer behält.
Nicht zuletzt soll die russische Schwarzmeerflotte die Verbindung und
allseitige Versorgung ihrer eigenen Seekriegsbasis im syrischen Tartus
gewährleisten mit den entsprechenden politisch-militärischen
Einflussmöglichkeiten im Nahen Osten.
Die russische Schwarzmeerflotte besitzt in der Region sechs Marinebasen.
Ganz deutlich vor Noworossisk an der Ostküste (wohin jetzt wegen der
ukrainischen Drohnenangriffe und der schon eingetretenen schmerzhaften
Verluste große Teile der schwimmenden Einheiten verlagert wurden) ist
Sewastopol /der/ Marinestützpunkt der russischen Flotte im Schwarzen Meer.
Seine erzwungene Aufgabe drohte schon 2013/14, als in Kiew die extrem
nationalistischen Kräfte das Übergewicht gewannen und die Verwandlung
Sewastopols in einen riesigen Marinestützpunkt der NATO absehbar war.
Dies hätte bedeutet, dass, nachdem Bulgarien und Rumänien mit ihren
Seestreitkräften und Marinebasen bereits an den Nordatlantikblock
verloren gegangen waren, das Schwarze Meer zum Mare Nostrum der NATO
geworden wäre. So, wie es weitestgehend schon das Mittelmeer ist und wie
es nach dem Willen des Nordatlantikpaktes und vor allem seiner besonders
russlandfeindlichen Mitglieder Polen und aus den Baltikum die Ostsee
werden soll. Der Verteidigungsminister der nach dem Maidan-Putsch an die
Macht gekommenen ukrainischen Regierung erklärte denn auch sofort, dass
er die 1997 geschlossene Vereinbarung über den russischen
Flottenstützpunkt für eine unerträgliche Schmach halte, die
schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen sei.
Der außerordentlich bedeutungsvolle globalstrategische Vordenker der USA
Brzeziński, dessen weitreichende, gar nicht zu überschätzende Ideen für
Washington auch noch heute den Fahrplan bestimmen, hatte schon im Jahre
1997 betont, dass die Halbinsel Krim uneingeschränkt dem russischen
Einflussraum entrissen werden müsse, um Moskau geostrategisch gänzlich
aus dem Schwarzen Meer und der assoziierten Region zu drängen. Gewänne
man die Krim für die NATO, so Brzeziński, wären auch jegliche
Bestrebungen für regionale Hegemonie Russlands in Eurasien verwirkt. Der
namhafte US-amerikanische Ökonom Jeffrey D. Sachs schätzte dazu ein:
„Das alles kann man als Wiederauflage des Krimkriegs (1853-1856)
betrachten: Russland soll aus der Schwarzmeerregion gedrängt werden.“
Schon aus all den aufgeführten rein machtpolitischen Gründen, aber auch
aus Gründen des relativen militärischen Gleichgewichts als Voraussetzung
für die Friedenserhaltung konnte und kann Moskau den Verlust der Krim
nie und unter keinen Umständen zulassen. Ähnlich war die Situation für
die USA mit den sowjetischen Nuklearraketen auf Kuba 1962.
*/Teil II:/(Auszüge)**/
/**(…)
DWN: */Was ist die militär-strategische Bedeutung der Stadt Odessa?/
*Lothar Schröter:* Wir sollten in diesem Zusammenhang sicher von dem
Gebiet Odessa mit seiner gleichnamigen Hauptstadt sprechen. Nur getrennt
durch das Gebiet Nikolajew liegt es nahe des von Russland beanspruchten
Gebiets Cherson.
Die überragende Bedeutung des Gebietes Odessa und vor allem seiner
Metropole (bewohnt ganz überwiegend von Russischstämmigen und
Russischsprachigen) ergibt sich daraus, dass sie für die Zukunft des
ukrainischen Staates entscheidend sind. Denn nur, wenn die Ukraine den
Zugang zum Schwarzen Meer behalten kann (auch das Gebiet Nikolajew würde
ja fallen), hat sie eine Chance wirtschaftlich zu überleben – überhaupt
zu überleben.
Über die drei Häfen Tschernomorsk, Jushny und hauptsächlich Odessa läuft
der Löwenanteil der ukrainischen Ausfuhren an Getreide, eines der
Hauptexportgüter des Landes. In der zweiten Hälfte 2023 waren es 93
Prozent. Das Gebiet Odessa gehört zu den wirtschaftlich am höchsten
entwickelten der Ukraine (bei alledem ist zu bedenken, dass die
verlorengegangenen Industrieregionen des Donbass vordem zwischen 16 und
20 Prozent des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts erwirtschafteten).
Militärisch würde sein Verlust vor allem auch bedeuten, dass sie dann
über überhaupt keine Seestreitkräfte mehr verfügen könnte.
In der umgekehrten Sicht ergibt sich daraus für Russland die fast alles
überragende Priorität, die gesamte Schwarzmeerküste unter seine
Kontrolle zu bringen. Zwei wesentliche Momente kommen für Moskau hinzu:
Mit der Inbesitznahme des Gebietes Odessa würde Russland an das
politisch unberechenbare und augenblicklich dem Westen zuneigende
Moldawien heranrücken und dort die Südwestgrenze des russischen Staates
befestigen können. Und Moskau würde den Anschluss an das
russischsprachige und sich Russland zugehörig fühlende Transnistrien
finden (das sich 1990 faktisch von Moldawien abgespalten hatte). Damit
würden zugleich die dortigen, auf verlorenem Posten stehenden
einheimischen und russischen Truppen entsetzt, gerade aber auch die in
Größenordnungen in Transnistrien gelagerten Vorräte an Waffen und
Munition dem Zugriff der Ukraine und damit des Westens entzogen.
Das Gebiet Odessa dürfte damit militärisch-strategisch noch deutlich
über die Bedeutung von Charkow im Norden hinausgehen.
Dass Moskau nicht daran denkt, die Schwarzmeerküste zum jetzigen
Zeitpunkt militärisch gänzlich der Ukraine zu entreißen, hat wohl drei
miteinander zusammenhängende Gründe.
*(…) **
*
Mitte des 19. Jahrhunderts ging es im Raum des Schwarzen Meeres/des
Nahen Ostens um regionale Machtfragen. Heute werden im
Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland die Weichen für die ganze
Welt für 50 oder sogar 100 Jahre gestellt.
*DWN: */Trifft es also zu, dass der Krieg in der Ukraine eine
Zeitenwende darstellt?/
*Lothar Schröter:* Zeitenwende? Ja, und zwar in dem angeführten Sinne
einer Entscheidung für die ganze Welt für das nächste halbe oder ganze
Jahrhundert. Nein, nicht im Scholz’schen Sinne. Denn der Krieg ist nicht
2014/2022 nach Europa zurückgekehrt. Er war mit der Aggression der NATO
gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 zurückgekehrt. Sie war auch eine
Zäsur für Deutschland: Seine politische Führung betrieb zum ersten Mal
nach 1945 mit militärischer Gewalt wieder Politik, und dazu noch in
einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg.
*DWN:* /Welche Folgen könnte eine Niederlage der Ukraine – und damit
ihrer westlichen Sponsoren – für die geostrategischen Ambitionen der
NATO und ihren Zusammenhalt haben; würde der Anspruch der USA auf eine
unipolare Weltordnung zerschellen?/
*Lothar Schröter:* Die NATO selbst sieht ihren Stellvertreterkrieg gegen
Russland als Nagelprobe dafür an, ob sie ihren ureigensten Zweck, mit
militärischer Macht, gegebenenfalls auch mit militärischer Gewalt,
Politik zu betreiben, überhaupt erfüllen kann. Nach dem Niederringen des
realsozialistischen Gegners in Osteuropa, wozu eine gewaltige
militärische Machtentfaltung, nicht aber militärische Gewalt, notwendig
war, war der Militärblock ständig auf der Suche nach seiner Sinngebung,
auch wenn er das nach außen hin möglichst zu verbergen suchte. Nun ist
er in eine direkte militärische Konfrontation (auch wenn das durch
Stellvertretung getarnt wird) um die zukunftsentscheidende
Auseinandersetzung zwischen der vom Westen zu verewigen erhofften
Alleinherrschaft (Unipolarität) und der von den allermeisten Ländern der
übrigen Welt unter Führung Chinas mit Russland und den BRICS-Staaten
sowie dem „globalen Süden“ vertretenen Prinzip der Multipolarität mit
dem Kern von Gleichheit, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit und einer
fairen Weltwirtschaftsordnung eingetreten.
Diese Aufgabe ist nur zu vergleichen mit seinem schließlich errungenen
Sieg im Kalten Krieg. Damals, in einem strategischen Kampf von
weltweiter Bedeutung, gelang ein Erfolg auf ganzer Linie. Doch nach der
ersten Euphorie trat die Sinnkrise der NATO ein. Sie hielt an, bis
Russland 2001 das Ende der Jelzin-Ära verkündete und seine traditionelle
Rolle als Groß-und Weltmacht einklagte. Tja, und bis im Fernen Osten mit
der VR China ein Riesenreich, mit dem niemand so richtig rechnete,
zusätzlich eine solche Rolle beanspruchte. Neue (alte) Feinde waren
ausgemacht, über die machtpolitisch ein abermaliger Triumph
durchzusetzen war.
Sollte dies misslingen, sollte also der Stellvertreterkrieg jenseits der
Ostgrenzen der NATO verloren gehen, werden im Bündnis erhebliche
zentrifugale Tendenzen auftreten. Sie werden an seiner
Funktionsfähigkeit am heftigsten aufflammen. Verstärken werden sie sich,
wenn Russland seine Westgrenzen (niemand weiß, ob es für Moskau in den
ukrainischen Landen die Westgrenze der UdSSR sein soll) zu einem
unüberwindlichen Wall ausbauen wird und vor allem: Wenn sich als Unsinn
erweist, dass Polen und die baltischen Staaten „die Nächsten“ sein
würden, wenn also die neue (alte) Legende von der Bedrohung aus dem
Osten platzt.
Dann wird man nach Kaufmannsmanier fragen, ob sich die Hunderte von
Milliarden Dollar für das Ukraineexperiment nicht als exorbitante
Fehlinvestition erwiesen haben und ob sich der angekurbelte massive
Aufrüstungskurs in der NATO noch lohnt. Ja: Ob er überhaupt
durchzustehen sein wird. Gerade auch dann, was zu erwarten ist, wenn die
Kanonen-statt-Butter-Politik zu ökonomischen Einbrüchen, zu krassen
sozialen Verwerfungen und zu noch schärferen Konflikten in den
Gesellschaften führen wird, die die Stabilität sogar mancher
Mitgliedsländer gefährden könnte. Bis hin zu der Frage, ob es nicht
besser gewesen wäre, wie Ungarn auf einen Ausgleich mit Russland zu
setzen, weil das die allemal renditeträchtigere Investition – im
Billionen-Dollar-Bereich – gewesen wäre. Aber: Moskau wird nicht
vergessen, wie es vom Westen betrogen und „bestraft“ wurde. Es wird den
Blutzoll nicht vergessen, den das Land gerade auch in Verantwortung
besonders der NATO-Führungsmächte gezahlt haben wird.
In der NATO wird es also eine Schlussrechnung geben. In Brüssel,
Washington, Berlin und andernorts wird man allergrößte Sorge um die
Zukunft des Militärblocks haben, wenn das nach hunderttausenden Opfern
zählende blutige Abenteuer in der Ukraine seine so extremen Ziele
verfehlen sollte und -zig Milliarden Dollar verbrannt sein werden. Auch
das Ende der NATO in der bisherigen Form kann dann nicht mehr
ausgeschlossen werden. Und dabei sollte doch in dem kriselnden
Militärblock gerade nach den Debakeln in Afghanistan, im Nahen Osten und
in Afrika mit der Ukraine nicht zuletzt auch ein nochmaliger enger
Schulterschluss aller Paktmitglieder erreicht werden …
Info: https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/708593/dwn-interview-ukraine-krieg-zehn-jahre-nach-dem-massenmord-von-odessa
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.
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