aus e-mail von Doris Pumphrey, 15. Juni 2024, 19:54 Uhr,
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/ukraine-krieg-harald-kujat-usa-deeskaliern-selenskyj-muss-nachziehen-li.2224923
*Ex-Nato-General Kujat zum Ukraine-Krieg:
Die USA deeskalieren, Selenskyj müsste nachziehen
*Ein Gastbeitrag von Harald Kujat.
Der ukrainische Präsident sucht am 15. und 16. Juni auf einer Konferenz
in der Schweiz, zu der Russland nicht eingeladen wurde, erneut
Unterstützung für seine „Friedensformel“. In seiner Rede vor dem
Deutschen Bundestag sagte Selenskyj allerdings: „Wir werden diesen Krieg
zu unseren Bedingungen beenden.“
Damit schließt er einen Verhandlungsfrieden aus. Trotzdem hofft der
Bundeskanzler auf entsprechende Fortschritte: „Vielleicht kann ein Weg
aufgezeigt werden, wie ein Einstieg in einen Prozess gelingen könnte,
bei dem eines Tages auch Russland mit am Tisch sitzt.“ Brasilien und
China, die nicht an der Konferenz teilnehmen, haben am 23. Mai einen
gemeinsamen Vorschlag für Verhandlungen zwischen Russland und der
Ukraine veröffentlicht. Sie betonen, dass „Dialog und Verhandlungen die
einzige erfolgversprechende Lösung der Ukraine-Krise sind.“
*„Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts“
*Nicht nur die Ukrainer sind kriegsmüde, die Wahlergebnisse der
Europawahl zeigen, dass auch in Deutschland immer mehr Menschen für
Frieden und gegen die alternativlose Fortsetzung des Krieges mit immer
weiteren Waffenlieferungen gestimmt haben. Die Deutschen werden sich
offenbar zunehmend des Risikos der Ausweitung und Eskalation des Krieges
sowie der Gefahren für Deutschland bewusst.
Dem ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt wird das Wort zugeschrieben:
„Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Von der
derzeitigen Bundesregierung ist bisher keine Friedensinitiative
ausgegangen, obwohl das Friedensgebot der Präambel unserer Verfassung
ausdrücklich verlangt, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten
Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“
*Die Franzosen setzen die USA unter Druck
*Selbst der Beitritt zur Nordatlantischen Allianz stand unter dem
Friedensgebot der Verfassung: „Der Bund kann sich zur Wahrung des
Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen …“
Deshalb wäre die Bundesregierung verpflichtet, sich dem
Konfrontationskurs des Nato-Generalsekretärs zu widersetzen. Zumal er
mit seinem Vorschlag einer Nato-Ukraine-Mission, der auf der
Nato-Gipfelkonferenz im Juli von den Mitgliedstaaten gebilligt werden
soll, zu weit gegangen ist. Die Nato soll demnach die Koordination der
militärischen Unterstützung der Ukraine übernehmen, einen Fond über 100
Milliarden Euro für ein fünfjähriges Finanzierungsprogramm einrichten
und für die bilateralen Sicherheitsvereinbarungen der Mitgliedstaaten
mit der Ukraine einen Nato-Rahmen bilden. Es ist abzusehen, dass dieser
Vorschlag die durch die bedenkenlose Unterstützung der Ukraine
entstandenen Spannungen im Bündnis verstärken wird.
Angesichts der kritischen Lage der Ukraine haben einige europäische
Politiker, allen voran Präsident Macron, die amerikanische Regierung
unter Druck gesetzt, den Forderungen Selenskyjs nachzugeben und die
Erlaubnis zum Einsatz amerikanischer Waffen auf russischem Territorium
zu erteilen sowie Soldaten aus Nato-Staaten für die Ausbildung 150.000
ukrainischer Rekruten in unmittelbarer Frontnähe abzustellen.
*Ausbildung ukrainischer Soldaten
*Präsident Biden hatte bisher Angriffe mit amerikanischen Waffen auf
russisches Territorium kategorisch abgelehnt, um „einen Dritten
Weltkrieg zu vermeiden“. Nun hat er auf Druck seiner Berater und einiger
Alliierter zum ersten Mal begrenzte Angriffe auf Artillerie- und
Raketenstellungen sowie auf Kommandozentralen eines Gegners zugelassen,
der über Nuklearwaffen verfügt. Allerdings hat Biden diese Erlaubnis
regional begrenzt und Angriffe durch ATACMS-Raketen mit einer Reichweite
von 300 Kilometern sowie von weiterreichenden Waffen wie bisher
ausgeschlossen. Die Bundesregierung ist dem amerikanischen Beispiel
sofort gefolgt, und Russland kann nun auch mit deutschen Waffen
angegriffen werden.
Der französische Präsident war zuvor einen großen Schritt weiter
gegangen und hatte nicht ausgeschlossen, französische Kampfverbände in
den Ukraine-Krieg zu schicken, falls Russland die ukrainischen
Verteidigungslinien durchbricht und der ukrainische Präsident diese
Unterstützung fordert. Sein militärischer Oberbefehlshaber hat diese
Ankündigung präzisiert und behauptet, Frankreich sei in der Lage, die
Einsatzbereitschaft von 20.000 Soldaten innerhalb von sechs Wochen
herzustellen und ein internationales Kontingent von 60.000 Mann im
Einsatz zu führen.
Präsident Biden erklärte daraufhin, es gäbe keine amerikanischen
Soldaten in der Ukraine, die am Krieg beteiligt seien, und er sei
entschlossen, es dabei zu belassen. Deshalb hat Macron sein Angebot
dahingehend modifiziert, dass er nur noch beabsichtigt, eine Brigade von
4500 ukrainischen Soldaten in der Ukraine auszubilden und auszurüsten.
Außerdem hat Macron angekündigt, eine nicht genannte Zahl von Mirage
200-5 Kampfflugzeugen zu liefern und die ukrainischen Piloten auszubilden.
*Die Eskalationsbereitschaft Macrons und europäischer Politiker
*Putin bezeichnete die Erlaubnis zum Einsatz westlicher Waffen gegen
Ziele in Russland als einen gefährlichen Schritt. Russland habe das
Recht, gleichartige Waffen in Regionen der Welt zu liefern, von denen
aus sensitive Einrichtungen in den Ländern angegriffen werden könnten,
die Angriffe gegen Russland ermöglichen. Putin scheint wie der
amerikanische Präsident eine direkte Konfrontation vermeiden zu wollen,
denn seine Reaktion entspricht der Strategie des indirekten Vorgehens.
Seit dem 12. Juni lässt er russische Seemanöver in der Karibik
durchführen. Daran nehmen unter anderem die Fregatte „Admiral Gorschkow“
und das Atom-U-Boot „Kasan“ teil, die mit SS-N-23
Zirkon-Hyperschall-Marschflugkörpern bewaffnet sind. Das U-Boot hatte
zuvor in Kuba Station gemacht. Im Westen Russlands werden weiter Übungen
mit taktischen Nuklearwaffen abgehalten.
Die Eskalationsbereitschaft Macrons und anderer europäischer Politiker
unterscheidet sich von der kontrollierten Eskalationsstrategie der USA,
die in kleinen Schritten versucht, das Risiko des Gegners zu vergrößern
und das eigene Risiko zu minimieren. Stoltenbergs Nato-Ukraine-Mission
und die Bereitschaft einiger europäischer Staaten, Truppen in der
Ukraine einzusetzen, verstärken den Trend zur Europäisierung des
Ukraine-Krieges. Zudem hat die mentale Vorbereitung der Europäer auf
einen Krieg mit Russland begonnen, seit die russischen Streitkräfte nach
dem Scheitern der ukrainischen Offensive die Initiative übernommen haben
und sich mehr und mehr eine militärische Niederlage der Ukraine abzeichnet.
*Russland hat nicht die Absicht, die Nato anzugreifen
*In Deutschland wird sogar mit der Möglichkeit eines russischen Angriffs
in wenigen Jahren gerechnet. Der Angriff auf die Ukraine sei Teil einer
langfristigen imperialen Strategie, um die Sowjetunion wieder zu
errichten. Russland beabsichtige nach der Eroberung der gesamten
Ukraine, das Baltikum und Polen anzugreifen und einen Krieg mit der Nato
zu beginnen. Auch der amerikanische Präsident wird nicht müde zu
behaupten, Russland werde nach der Eroberung der Ukraine nicht Halt
machen. Den westlichen Vorwürfen hat Putin kürzlich in einer
Pressekonferenz vehement widersprochen: „Sie haben sich ausgedacht, dass
Russland die Nato angreifen wird. Sind sie etwa völlig verrückt
geworden? Wer hat sich das ausgedacht? Das ist Unsinn.“
Weder aus den sicherheitspolitischen und strategischen
Grundsatzdokumenten der russischen Regierung noch aus öffentlichen
Äußerungen Putins lassen sich Pläne für Angriffe auf Nato-Staaten
ableiten. Selbst die offiziellen Bedrohungsanalysen der amerikanischen
Regierung – einschließlich der von 2024 – geben keinen Hinweis auf eine
entsprechende russische Absicht. In der aktuellen amerikanischen
Bedrohungsanalyse heißt es: „Russland will mit ziemlicher Sicherheit
keinen direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und
der Nato und wird seine asymmetrischen Aktivitäten unterhalb der seiner
Schätzung nach globalen militärischen Konfliktschwelle fortsetzen.“
*Die ukrainischen Angriffe auf russische Ölraffinerien
*Das bedeutet jedoch nicht, dass die Gefahr eines großen europäischen
Krieges gebannt ist. Die sich weiter verschärfende Lage der Ukraine
zeigt, dass der Krieg auf einen Scheitelpunkt zustrebt. Um eine
militärische Niederlage der Ukraine zu verhindern, lassen insbesondere
europäische Staaten immer mehr Beschränkungen fallen und sind inzwischen
nur noch wenige Schritte von einer direkten Beteiligung an den
Kampfhandlungen entfernt. Dagegen gehen die amerikanischen und
ukrainischen Interessen schon seit einiger Zeit auseinander.
Die ukrainischen Angriffe auf russische Ölraffinerien und
interkontinentalstrategische Frühwarnradare sind nur zwei Beispiele aus
der jüngeren Zeit, die größte Besorgnisse der amerikanischen Regierung
ausgelöst haben. Denn Selenskyj hat nichts zu verlieren, wenn er weiter
eskaliert und sich bemüht, die Nato in den Konflikt hineinzuziehen,
selbst wenn dadurch eine der Kubakrise vergleichbare Situation entsteht.
Biden will jedoch eine derart gefährliche Eskalation vermeiden. Für ihn
steht während des Präsidentschaftswahlkampfs viel auf dem Spiel. Die
Entwicklung der letzten Wochen zeigt deshalb, dass auch die europäischen
und amerikanischen Prioritäten auseinanderdriften.
*„Realistische und konstruktive Schritte“
*Dennoch: Die vom Bundeskanzler von der Konferenz auf dem Bürgenstock
erhoffte Entwicklung hat bereits vor einiger Zeit begonnen. Die USA
haben die Ukraine nach der gescheiterten Offensive aufgefordert, in die
strategische Defensive zu gehen, um das noch unter ihrer Kontrolle
befindliche Territorium zu verteidigen und die hohen Verluste zu
reduzieren. De facto bedeutet dies die Aufgabe des von Russland
eroberten Gebiets. Das Einfrieren des Frontverlaufs erinnert an den
Waffenstillstand des Koreakrieges, obwohl die Bedingungen, unter denen
er erfolgte, nicht vergleichbar sind. Für die Ukraine wäre ein
Waffenstillstand zwar eine notwendige, jedoch keine hinreichende
Bedingung für eine friedliche Lösung des Krieges, wenn keine
Friedensverhandlungen folgen.
Putin bezeichnete vor seinem letzten Chinabesuch das chinesische
12-Punkte-Positionspapier vom Februar vergangenen Jahres und die im
April von Xi Jinping veröffentlichten Prinzipien als „realistische und
konstruktive Schritte“. In der Tat ist das chinesische Positionspapier
gegenwärtig der einzige realistische Vorschlag zur Beendigung des
Krieges. Denn es wird vorgeschlagen, die Friedensverhandlungen von
Istanbul, ausgehend von dem im April 2022 erreichten Ergebnis,
fortzusetzen, wodurch man die zwischenzeitlich von beiden Seiten
aufgebauten Hürden umgehen könnte. Dementsprechend schlug Putin vor
wenigen Tagen vor, Friedensverhandlungen auf der Grundlage der
Vereinbarungen von Minsk und Istanbul zu führen, falls die USA und die
Ukraine bereit wären, die „entstandenen Realitäten anzuerkennen“ und
auch die russischen Sicherheitsinteressen zu berücksichtigen.
*Es ist höchste Zeit, die Kampfhandlungen zu beenden
*Die USA sind dazu offenbar grundsätzlich bereit. Denn nichts anderes
bedeutet die Einsicht, dass die ukrainischen Streitkräfte allenfalls in
der Lage sind, das noch von ihnen kontrollierte Territorium zu
verteidigen, aber nicht fähig sind, die von Russland eroberten
beziehungsweise annektierten Gebiete zurückzuerobern. In einem Interview
mit dem Time Magazins vom 4. Juni sagte Präsident Biden, die Ukraine
werde nicht Teil der Nato; die USA würden ihre Beziehungen zur Ukraine
wie zu anderen Ländern gestalten, denen sie Waffen liefern, damit sie
sich in Zukunft verteidigen können. Er fügte hinzu: „Ich war derjenige,
der sagte, dass ich nicht bereit bin, die Nato-isierung der Ukraine zu
unterstützen.“ Damit hat Biden den Kern der russischen
Sicherheitsinteressen anerkannt und die Aussicht auf eine diplomatische
Lösung erheblich verbessert.
Am 14. Juni hat Putin noch einmal seine Bedingungen für die
Friedensverhandlungen bestätigt
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Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aus den Gebieten der vier am 20.
September 2022 annektierten Regionen, die Russland noch nicht erobert
hat, und Verzicht der Ukraine auf die Nato-Mitgliedschaft. Falls die
ukrainische Regierung dies akzeptiert, „werden wir sofort, buchstäblich
in derselben Minute, das Feuer einstellen und Gespräche aufnehmen“.
Jetzt hält der ukrainische Präsident den Schlüssel in der Hand, der den
Weg zu einem Ende der Kampfhandlungen und zu Friedensverhandlungen
öffnen könnte. Es liegt an ihm, ob er angesichts der Annäherung der
amerikanischen und der russischen Position bereit ist, seinem Volk
weiteres Leid zu ersparen und das tausendfache Sterben zu beenden sowie
eine noch weitergehende Zerstörung seines Landes zu verhindern. Oder ob
er weiter der Fiktion folgen will, alle verlorenen Gebiete
zurückerobern. Zu lange hat der Westen die Illusion genährt, es sei
möglich, der Ukraine durch immer neue, leistungsfähigere Waffen zum Sieg
zu verhelfen. In Wahrheit ist die militärische Lage trotz der großen
finanziellen und materiellen Unterstützung immer aussichtsloser
geworden. Es ist höchste Zeit, die Kampfhandlungen zu beenden und den
Weg zu einem Verhandlungsfrieden freizumachen.
/Der Autor, General a.D. Harald Kujat, ist ehemaliger Generalinspekteur
der Bundeswehr; er war Vorsitzender des Nato-Militärausschusses sowie
des Nato-Russland-Rates und der Nato-Ukraine-Kommission der
Generalstabschefs./
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.