9. LMD: Charlotte Wiedemann: Auf der Suche nach Palästina
Gespräche über Zukunftsvisionen und den brutalen Alltag unter der Besatzung
https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221
13.06.2024
Auf der Suche nach Palästina
Gespräche über Zukunftsvisionen und den brutalen Alltag unter der Besatzung
von Charlotte Wiedemann
Erleben wir gerade den entscheidenden Moment der jüngeren Geschichte
Palästinas? So ist es allenthalben zu hören, in einem Ton, so düster
wie hell, ein Doppelklang von Desaster und Triumph. Nie war das Leid
nach 1948 so bitter, die Gefahr völliger Vertreibung so groß. Zugleich
dieser weltweite Echoraum der Solidarität, vibrierend von
Siegesgewissheit: Palestine will be free.
Wo aber ist dieses Palästina, wenn es denn nicht nur eine Metapher
sein soll, nicht nur Symbol der Sehnsucht nach globaler Gerechtigkeit,
sondern ein reales Land für reale Menschen – und was definiert deren
Freiheit?
Die tägliche Wetterkarte der Jerusalem Post zeigt Israel vom Meer bis
zum Fluss, das Westjordanland einverleibt; rote Punkte markieren
israelische Städte, palästinensische existieren nicht. In den
Souvenirshops Israels findet sich keine andere Silhouette des Landes
als from the river to the sea. Palästinensische Läden verkaufen die
gleiche Silhouette, in den panarabischen Farben oder als Kalligrafie.
Birgt diese Beobachtung womöglich eine Lösung?
Zwei Völker betrachten dasselbe kleine Stück Erde als ihre Heimat und
erkennen dieses Heimatgefühl wechselseitig an – dies ist der
Grundgedanke von „A Land for All“ (Alfa), eine
israelisch-palästinensische Initiative von Wissenschaftlern,
Intellektuellen, Juristinnen, Journalisten. Sie gehen jetzt, in der
dunkelsten Stunde, mit ihrem Modell einer binationalen Föderation in
die Offensive:
Zwei souveräne Staaten mit offener Grenze zueinander erlauben
Freizügigkeit und Wohnrecht für alle zwischen Fluss und Meer. Ähnlich
wie in der Europäischen Union wären Staatsangehörigkeit und
Aufenthaltsrecht nicht identisch – die 700 000 jüdischen Siedler im
Westjordanland könnten im Staat Palästina bleiben, doch ohne
Wahlrecht. Im Gegenzug könnten sich Palästinenser, deren Vorfahren
1948 vertrieben wurden, in Israel ansiedeln, ohne dort Staatsbürger zu
sein.1
„Es ist für Palästinenser nicht leicht zu akzeptieren, dass Juden ein
Recht haben, hier zu sein und dass sie eine Bindung an das Land
haben“, sagt Rula Hardal, die palästinensische Co-Direktorin von Alfa.
Ich treffe die Politologin an einem Westjerusalemer
Forschungsinstitut; sie ist israelische Staatsangehörige und kommt aus
einer griechisch-orthodoxen Familie im Norden.
Gerade verabschiedet sie May Pundak, die jüdische Co-Direktorin. Die
beiden umarmen sich, sprechen Hebräisch, für Rula Hardal neben
Arabisch wie eine zweite Muttersprache, während ihre Kollegin sich
entschuldigt: sorry, nur wenig Arabisch. So ist es oft in binationalen
Projekten. Pundak hat zudem einen einschlägig bekannten Namen, ihr
Vater Ron war ein Architekt der Oslo-Friedensvereinbarungen, aus deren
Scheitern eine Aufgabe für die Tochter entstand.
Rula Hardal überdeckt jegliche Asymmetrie durch ihr Selbstbewusstsein.
Die 50-jährige Feministin stritt lange für Frauenrechte in der
israelischen Gesellschaft; ihr heutiges Selbstverständnis, sich nicht
als Angehörige einer Minderheit im jüdischen Staat zu betrachten,
sondern als Anwältin der Einheit aller Palästinenser, entstand erst
allmählich, auch während einiger Jahre in Deutschland, als sie an der
Universität Hannover Nahost- und Genderstudien lehrte und mit den
Sichtweisen der Diaspora vertraut wurde. Dass sie nun international
die palästinensische Seite des binationalen Projekts repräsentiert,
durchbreche die Schranke, die Israel stets zwischen den Palästinensern
errichte.
Ein Herzstück von „A Land for All“ ist die wechselseitige
Respektierung der Traumata, die auf beiden Seiten so prägend sind.
Holocaust und Nakba. „Die jüdischen Israelis müssen die Vertreibungen
von 1948 als Unrecht anerkennen und die Palästinenser das Leid der
Juden aus der europäischen Geschichte“, sagt Rula Hardal. Aber der
Holocaust legitimiere keinen Siedlerkolnilimus, der Zionismus müsse
sich von gewalttätigen Praktiken befreien.
In einem antizionistischen Protestcamp würde diese Formulierung
vermutlich als zu weich, zu liberal empfunden. Aber Hardal will weg
vom palästinensischen Selbstverständnis als Opfer. „Wir müssen als
Alteingesessene, als Eigentümer des Landes Verantwortung übernehmen
und dem anderen Volk eine gemeinsame Zukunft anbieten.“
So ist „A Land for All“ zugleich radikaler Kompromiss und radikale
Utopie. Sie verlangt von jüdischen Israelis und von Palästinensern,
nicht nur einander neu zu betrachten, sondern zugleich sich selbst.
Mehr als ein Jahrzehnt haben Forscher, Analystinnen und
Menschenrechtsaktivisten an dieser Vision gearbeitet, und dann traten
sie ausgerechnet drei Tage nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober an
die Öffentlichkeit.
Eine Flucht nach vorn, in der wilden Hoffnung, aus der Katastrophe
eine Chance zu machen. Alle Beteiligten wissen: Dafür bedarf es
immensen Drucks von außen, vor allem auf das jüdische Israel.
Vom Herzl-Berg im Westen Jerusalems – Jad Vaschem ist nahebei – bis
nach Beit Hanina in den Ausläufern des besetzten Ostjerusalem braucht
der Light Rail nur 35 Minuten. Die Gleise der Stadtbahn kreuzen eine
unsichtbare Linie, die Waffenstillstandslinie von 1949, für den Rest
der Welt die Staatsgrenze Israels, auf den Landkarten seiner Schulen
nicht verzeichnet.
Jüdische Mitreisende in der Bahn scheinen meine Frage, wo Ostjerusalem
beginne, nicht zu verstehen. Die Annexion dessen, was Palästinensern
ihre künftige Hauptstadt ist, hat sich auch ins Bewusstsein gesenkt.
Vom Meer bis zum Jordan sei alles jüdisches Land, das ist die
Position der israelischen Regierung, weshalb es, wie Benjamin
Netanjahu sagt, logischerweise gar keine Besatzung gebe. Einer seiner
Minister, Eli Cohen, nahm gerade vorweg, was daraus folgen soll: „From
the river to the sea wird es einen Staat geben: den Staat Israel.“2
A Land for All – ein radikaler Kompromiss
Das binational verschränkte Leben, die demokratische Utopie von A Land
for All, ist in der Realität eine autoritäre Dystopie im Werden, die
Einstaatlichkeit wird der schwächeren Seite aufgezwungen durch
Enteignung, zweierlei Recht und Waffengewalt. Meter für Meter,
Grundstück für Grundstück schiebt sich die sogenannte Judaisierung
voran, religiös verbrämtes Landgrabbing im Osten Jerusalems wie in
seiner Altstadt.
Ich treffe dort armenische Aktivisten in ihrem Protestcamp,
Überwachungskameras nach allen Seiten: Wie andere christliche
Gemeinden zuvor kämpfen sie gegen aggressive Gangs von Siedlern, die
Geschäftsleute bedrohen und Priester bespucken.
Die Dystopie ist gefräßig. Im Westjordanland stellen die jüdischen
Siedler bereits ein Viertel der Bewohner, das hat die
Zweistaatenlösung systematisch unterhöhlt. Und gegen den Ausweg, den A
Land for All an dieser entscheidenden Stelle anbietet, gibt es unter
Palästinensern einen berechtigten Einwand:
Eine Gleichstellung von nach internationalem Recht illegalen Siedlern
und Flüchtlingen, deren Rückkehrrecht 1948 in der UN-Resolution 194
verankert wurde, sei moralisch wie juristisch unannehmbar. Während die
Siedler in ihren 250 Ortschaften Bestandsschutz bekämen, bliebe die
Rückkehr von Geflüchteten und ihren Nachkommen Verhandlungssache.
An einem Frühsommerabend treffen sich im Ostjerusalemer
Nashashibi-Kulturzentrum Intellektuelle und ausländische Diplomaten
zum nichtöffentlichen Austausch. Die Villa ist melancholisches Denkmal
einer palästinensischen Oberschicht, die mit der Nakba unterging: Die
umfangreiche Bibliothek von Issaf Nashashibi (1885–1948), Philosoph
und Literaturwissenschaftler, wurde 1948 geplündert, viele Bände
Israels Nationalbibliothek einverleibt.
Ein passender Rahmen für Gespräche über Gerechtigkeit für alle im
historischen Mandatsgebiet Palästina. Muss der ethnonationale jüdische
Staat für sakrosankt gehalten werden, wie in der westlichen Diplomatie
üblich? Oder wären Juden und Jüdinnen womöglich besser geschützt ohne
suprematistische Privilegien?
Dafür plädiert auf jüdischer Seite schon länger der Philosoph Omri
Boehm. Seine binationale „Republik Haifa“ möge vorerst ein Traum sein,
schrieb er, sei jedoch „ehrlicher als der Gedanke, ein System der
Apartheid könne jemals ein menschliches Antlitz haben“.3 Eine
Schnittstelle zur propalästinensischen Solidaritätsbewegung dieser Tage.
Wenn Demonstranten auf ihren Pappschildern Gleichheit für alle
zwischen Meer und Fluss verlangen, erneuern sie das alte
Lieblingsmodell der säkularen palästinensischen Linken: ein
demokratischer Einheitsstaat, one person, one vote. Denn Kern der
palästinensischen Frage sind Freiheit, gleiche Rechte,
Selbstbestimmung und nicht ein Separatstaat.
Edward Said forderte bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten, über die
„erbärmlichen Perspektiven, wie sie Teilung und Trennung zu bieten
haben“, hinauszublicken.4 Allerdings warnte er zugleich vor dem
gefährlichen Wunsch, die Zeit zurückdrehen zu wollen und sich „ein
utopisches Land ohne aufdringliche jüdisch-israelische Präsenz“ zu
erträumen.
Wer Koexistenz allein auf Basis gleicher individueller Bürgerrechte
definiere, weiche der Frage nach einem legitimem jüdisch-israelischen
Nationalbewusstsein aus, argumentiert der palästinensische
Politikwissenschaftler Bashir Bashir, ein führender Experte im neuen
akademischen Diskurs über flexible Modelle von Souveränität.
Juden und Jüdinnen ausschließlich als Individuen zu betrachten, ließe
sie ohne kollektive Schutzrechte, wenn sie – demografisch absehbar –
zur Minderheit zwischen Meer und Fluss werden.
Der besonderen jüdischen Geschichte Rechnung zu tragen, in einer
egalitären Gesellschaft für alle, das bleibt die große Aufgabe der
Zukunft. Wenn für Zukunft noch Zeit ist.
Was bedeutet es, Palästinenser, Palästinenserin zu sein?
Abgesehen von Exil und Diaspora, abgesehen von den Lagern im Libanon,
in Jordanien, leben die Palästinenser allein auf dem kleinen Stück
Erde zwischen Fluss und Meer schon unter sechs verschiedenen
Rechtskonstruktionen: im Kernland Israel, in Gaza, in Ostjerusalem und
in den drei administrativen Zonen des Westjordanlands. Nirgendwo sind
sie jüdischen Bürgern gleichgestellt, doch auch untereinander sind sie
ungleich – sozial, geografisch, politisch fragmentiert.
Wie groß ist allein die Kluft zwischen zwei palästinensischen
Protagonisten von „A Land for All“, der viel reisenden Rula Hardal und
– im Westjordanland – Awni al-Mashni, der die Gruppe vor zwölf Jahren
mitbegründete! Unsere erste Verabredung platzt; ich warte in Ramallah,
er kommt wegen geschlossener Checkpoints nicht aus Bethlehem heraus,
22 Kilometer, unüberwindbar.
Mit akkurat gebügeltem Streifenhemd, ergrautem Schnauzbart,
jordanische Zigaretten kettenrauchend hat Awni al-Mashni etwas von
alter Fatah-Garde, das ist nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig.
Die Autonomiebehörde von Mahmud Abbas betrachtet er sehr kritisch, sie
diene vor allem Israels Interesse.
Zu Beginn unseres Gesprächs stellt er sich vor mit den Worten „Ich bin
ein palästinensischer Flüchtling“, als sei dies das Entscheidende in
einem ereignisreichen Leben, und tatsächlich war es das wohl. Seine
Eltern flohen 1948 aus al-Qabu, einem Dorf westlich von Jerusalem.
Awni wurde im Dheisheh-Flüchtlingscamp bei Bethlehem geboren und lebte
dort die meiste Zeit, sofern er nicht gerade im Gefängnis saß, und das
war so für insgesamt 13 Jahre.
Wo einmal das Haus der Eltern stand, ist heute der Begin-Nationalpark,
für al-Mashni unerreichbar; er darf nicht nach Jerusalem.
Bei einem Deutschlandbesuch vor vielen Jahren war er in einer
KZ-Gedenkstätte. „Ich verstehe das Leid der Juden in Europa, das zu
verstehen ist nicht schwer, und so etwas darf nie wieder passieren.
Aber es geschah nicht in meiner Verantwortung und darf nicht auf meine
Kosten gelöst werden.“
Ob er sich durch die Anerkennung des jüdischen Traumas von vielen
seiner Landsleute unterscheide, frage ich. Er widerspricht, „aber die
Frage ist sehr provokativ für jemanden, dessen Haus gerade zerstört wird“.
Welcher inneren Kraft es bedarf, den Schmerz über ein seit Kindertagen
erlebtes Unrecht im Zaum zu halten und sich für Versöhnung
starkzumachen, kann ich nur erahnen. Al-Mashni macht sich keine
Illusionen, wie lange selbst im günstigsten Fall eine binationale
Gesellschaft von der Asymmetrie der Macht gezeichnet wäre. „Die
Mentalität der Apartheid zu überwinden, wird Generationen dauern.“
Während des Gesprächs mochte ich ihm die Frage, was ihn ins Gefängnis
gebracht hatte, nicht stellen. Sie erschien mir plötzlich anmaßend,
weil Gefängnis unter seinen Lebensumständen so normal ist. Die
Menschen, die ich während meiner Recherche traf, hinterließen in
meinem Notizbuch gemeinsam ein Jahrhundert Knast.
Ich frage al-Mashni im Nachhinein, über die sichere Distanz von
Whatsapp, und bekomme Details: Mit 17, als er einer bewaffneten Zelle
angehörte, die erste Haft; später, als er unbewaffnet kämpfte, mehrere
Jahre im Gefängnis. Darunter auch die berüchtigte Administrativhaft,
ohne Anklage, ohne Urteil. „Die Besatzung“, schreibt er mir, „duldet
keinerlei Widerstand, auch wenn er gewaltlos und friedlich ist.“
Die Besatzung – sie ist im palästinensischen Sprechen ein handelnder
Akteur, kein Zustand. Und tatsächlich diktiert die Besatzung auf
ständig sich ändernde Weise den Alltag.
Zwischen der Vorstellung von Freizügigkeit from the river to the sea
und dem blockierten Leben im zerstückelten Westjordanland lässt sich
kaum ein größerer Kontrast denken. Es gibt Statistiken über die sieben
Typen von Hindernissen, Barrieren, Checkpoints und Straßensperren, sie
summieren sich auf 565, auf einer Fläche so groß wie ein Viertel
Hessens. Und zwei Drittel davon stehen ohnehin unter Kontrolle Israels.
Die Armee verschließt einfach die Gitter und Gatter am Ausgang von
Ortschaften und Dörfern, so dass deren Bewohner gar nicht erst die
Landstraßen erreichen. Mancherorts stehen jetzt Siedler als
Reservisten in Uniform an Checkpoints. Der europäische Mitarbeiter
einer Stiftung erzählt mir, wie schnell auch er in Gewehrläufe blicke,
wenn er an einem Posten aus Versehen seinen Wagen zu weit vorgesetzt habe.
Kalandia, den größten Checkpoint zwischen dem besetzten Ostjerusalem –
alias „Israel“ – und dem Westjordanland5, kannte ich von einem
früheren Besuch. Betäubt von Lärm, Gedränge und bellenden Kommandos,
schob ich mich damals mit Massen von Werktätigen, Palästinas
Arbeitskräften für Israels Baustellen, durch die Kotrolen.
Seit dem 7. Oktober sind Arbeitsgenehmigungen und Passierscheine
annulliert, die erzwungene Ruhe erlaubt mir Beobachtungen. Wie sich
betagte Frauen mit arthritischen Knien langsam die viel zu hohen
Stufen einer Überführung hinaufquälen. Wie eng die Drehkreuze sind,
die Reisetasche muss gegen die Brust gepresst werden. Kleinigkeiten
nur; jede zielt auf Demütigung.
Etwas abseits dann das Flüchtlingslager Kalandia, vom umgebenden
Wirrwarr aus Betonklötzen, Zäunen und Sperren durch sichtbares Alter
unterschieden: enge Straßen, alte Gebäude, Graffiti, das Zuhause von
14 000 anerkannten Flüchtlingen. Sie bleiben, weil es anderswo zu
teuer wäre, und aus einem Gefühl der Zugehörigkeit. Die Liebe zur
Heimat, sie gilt zuerst dem Dorf der Vorfahren, dann dem Camp, wo die
Beziehungen aus dem längst zerstörten Dorf weiterbestehen.
Wandgemälde erzählen von Getöteten und Inhaftierten, meist an der
Mauer des Hauses, wo der Betreffende lebte. Israelische Soldaten
kommen oft bei Nacht, ihre Lärmgranaten versetzen Kinder in
Todesangst. Das Camp bringt bewaffnete Kämpfer hervor – was ist
Ursache, was Wirkung? Manche Märtyrer-Graffitis sind sonnenverblichen,
andere frisch. Ich denke an einen Satz von Awni al-Mashni: Gewalt ist
keine Lösung. Er wirkt hier fremd.
„Feuerwaffen verboten“ steht am Eingang zur Schule des
UNWRA-Hilfswerks. 1200 Schüler, Klasse 1 bis 9. Der Rektor der
Jungenschule, ein Mathematiker, wurde im Camp geboren und ging als
Kind selbst auf diese Schule. Was hatte ich erwartet vom Leiter einer
UNWRA-Schule? Dass er ein Außenstehender wäre, neutral – und nicht so
ein wütender, sarkastischer, verletzter Mensch?
Einer seiner Söhne, Jurastudent, ist im Gefängnis, auch andere jüngere
Verwandte sind in Haft. „Unseren Kindern kann jederzeit etwas
zustoßen, denn wir leben unter Besatzung!“ Ein zweiter Sohn sitzt bei
unserem Gespräch dabei, soll mir seine Deutschkenntnisse beweisen. Ein
stiller junger Mann, er zögert, legt sich die Worte zurecht und sagt
dann: „Dies ist keine fruchtbare Erde für menschliche Entwicklung.“
Besuch einer Klasse, 42 Jungs lernen gerade Prozentrechnung. Meine
Frage, was sie von der Zukunft erwarten, wird mit Berufswünschen
beantwortet wie Arzt oder Fußballer. Als ich nach politischen Wünschen
frage, steht ein Junge aus der letzten Reihe auf: Eine Gegenwart ohne
Gefängnis sei ihm wichtiger als irgendeine Zukunft.
Angst und Unsicherheit sind allgegenwärtig, selbst im Umland von
Ramallah, wo man die sicherste Zone vermuten könnte, weil hier die
Autonomiebehörde und internationale Institutionen ansässig sind. Und
den Terror der Siedler, Überfälle und Brandschatzung, fürchten
keineswegs nur die Ärmsten, die ihren Schafstall und ihren Olivenhain
so leicht verlieren können im zionistischen Monopoly um Land und Raum.
Jede Kleinigkeit eine Demütigung
Der Besitzer eines adretten Mittelschichthauses bringt mich auf die
Dachterrasse, wir können bis nach Jordanien sehen, nur dass mein
Gastgeber die Straße, die sich vor unseren Augen durch die Hügel
zieht, nicht benutzen darf, sie ist für die Siedler, er zeigt nach
links, und für die Armee, er zeigt auf eine andere Anhöhe.
Von unten höre ich ein leises Surren, die Dame des Hauses poliert die
Fenster mit einem elektrischen Gerät, und mein Gastgeber sagt in das
Surren hinein: „Ich habe so viele Jahre an diesem Haus gebaut, habe
gespart, mit dem Heiraten gewartet. Der Gedanke, dass die Siedler
morgen kommen könnten und alles ist vernichtet, macht mich wahnsinnig.
Niemand beschützt dich.“
Ein härteres Urteil lässt sich über die „Sulta“, wie die Nomenklatura
der Autonomiebehörde in der arabischen Kurzform heißt, kaum fällen.
Dennoch ist offen geäußerte Kritik mir, einer Fremden, gegenüber für
manche ein ethisches Problem, denn sie verstößt gegen den Kodex des
Widerstands: vereint gegen die Besatzung.
Auf den ikonischen Gemälden des Malers Sliman Mansour ist Palästina
eine Frau, schön, erhaben und von unantastbarem Stolz. Mansour malte
die Hände seiner Figuren übergroß, Zeichen der Verbundenheit zum Land,
zur Arbeit mit der Erde. Zu dem vielen, was Palästinenser der
Autonomiebehörde vorwerfen, gehört dies:
Sie schützt nicht einmal das Wasser, schützt nicht die Quellen, die in
den palästinensischen Heimatmythen eine so große Rolle spielen; sie
lockt die Leute weg vom Land, in die unproduktiven Jobs ihrer
Bürokratenbubble, das synthetische Palästina der hohen Gehälter. Sie
entfremdet die Palästinenser von ihrer Erde, ihren Traditionen.
Die Birzeit-Universität empfängt mit einem einladenden Campus: viel
heller Stein, Bäume, Coffeeshops, Tischtennisplatten, sogar ein Raum
zum Schachspielen. Hier studieren die Klügsten einer Generation, die
in den Ruinen des Friedensprozesses aufwuchs, mit einer höhnisch
vorgegaukelten Autonomie.
Am Eingang zum Büro des Studentenrats hängen die Fotos der Gewählten;
die Hamas stellt die stärkste Fraktion. Sie setzten sich für die
Interessen der Studierenden ein, seien aktiv und nicht korrupt,
versichern die jungen Frauen, die mich auf dem Campus herumführen. Ich
habe sie zufällig kennengelernt, eine heterogene kleine Schar, mit und
ohne Kopftuch. Die Zusammensetzung des Rats, sagen sie, sei ein
Zeichen von Demokratie.
In seinem Büro spreche ich den Historiker Nazmi al-Jubeh, ein
Säkularer in Opposition zum Islamismus, darauf an. Er könne in den
studentischen Debatten nach seinen Vorlesungen keinen klaren
Unterschied zwischen Hamas und Nicht-Hamas erkennen, sagt der
Professor. Und der Lehrplan der Birzeit-Uni reserviert viel Zeit für
Aussprache: „Die Studenten sollen lernen, mit verschiedenen Ideen zu leben.“
Al-Jubeh, knapp 70, ein eleganter Mann mit feinen Gesichtszügen, tritt
als Architekturhistoriker im Fernsehen auf, ist international
renommiert – und war mehrfach im Gefängnis. „Natürlich!“ Er lacht mit
dem Sarkasmus, der mich durch alle Gespräche begleitet. „Durch den
Sarkasmus überleben wir“, bestätigt er, „sonst würden wir
explodieren.“ Seit 30 Jahren in Birzeit lehrend, hat er sich für die
Lebenszeit, die er mit dem Warten an Checkpoints vertat, eine ganze
Bibliothek in seinem Auto eingerichtet. „Ich habe mich hinter dem
Steuer in Bücher versenkt, um nicht verrückt zu werden.“
Auf meine Frage: Was ist heute Palästina?, lautet seine spontane
Antwort: „Viel mehr, als Palästina einmal war.“ Viele Tausende hätten
die verlorenen historischen Ortschaften zu Namen von Personen und
Geschäften gemacht, von Restaurants und Unternehmen, ob in Chicago
oder in Amman.
Er selbst hat über Lifta geforscht, das einzige palästinensische Dorf
in Israel, von dem Ruinen erhalten sind.6 „Ich habe nun Beziehungen zu
Lifta-Gemeinden weltweit, alle haben Websites mit Erzählungen und
Anekdoten, natürlich auch Romantisierungen. Die Dörfer werden virtuell
wiederhergestellt, das schafft über Kontinente hinweg Beziehungen
zwischen Menschen, die einander nie gesehen haben.“ Und die meisten,
sagt al-Jubeh, seien überzeugt: Eines Tages kehren wir nach Hause zurück.
Das Land der Erzählung. Neben der Zukunftsvision von Freizügigkeit
zwischen Fluss und Meer und dem blockierten, fragmentierten Alltag ist
dies ein drittes Palästina. Und aus dem Besitz der erzählten Heimat
entsteht, was für Außenstehende so erstaunlich ist, gerade jetzt:
Ausdauer, Beharrungsvermögen.
In Ostjerusalem treffe ich zum Schluss Mahmoud Muna, Essayist,
Verleger und Eigentümer zweier stadtbekannter Buchhandlungen für
englischsprachige Literatur zum Nahen Osten. Seit Januar arbeitet Muna
mit Hochdruck an einem Buch über Gaza, seine 4000-jährige Geschichte,
seine Menschen.
Der Titel „Daybreak in Gaza“7 klingt nach Aufbruch, und Muna sagt
tatsächlich: „Ich bin optimistisch.“ Das Buch werde die kulturelle
Größe der Region rehabilitieren, werde sie „rehumanisieren“, entgegen
dem Bild von Gaza als einem Streifen Sand, besiedelt von
Überflüssigen, die niemand wolle, von Unnützen, dazu bestimmt, als
Kollateralschaden zu enden. „Steine können zerstört werden; die
menschlichen Leistungen sind unzerstörbar. Und das ist, was für uns
zählt. Das ist die Tiefe, die andere uns immer nehmen wollten, die
Tiefe unserer Wurzeln und unserer Geschichte.“
Triumph und Desaster. Die Zivilgesellschaft in Gaza hat zu einem
entsetzlich hohen Preis den Kampf um die Gunst und die Herzen der Welt
gewonnen. Daneben steht der schwarze Schatten des nicht entschuldbaren
Hamas-Massakers; mir gegenüber wurde es meist beschwiegen. Die
Palästinenser haben sich mit Hingabe und mit Gewalt, mit unsäglichem
Leid und mit Terror wieder auf die globale Agenda katapultiert.
Gaza hat gezeigt, wie der Westen mit zweierlei Maß misst, doch die
Resonanz auf israelische Kriegsverbrechen hat auch mit dem Wandel der
internationalen Ordnung zu tun. Da kippt eine Ära. Werden die
Palästinenser ihren neuen großen Echoraum nutzen können, ohne
Einigkeit, ohne anerkannte Führung?
Viele sprechen nun vom Neuaufbau der PLO, als Organisation, die alle
repräsentiere, auch die Diaspora, die Jugend, die Frauen, mit einer
einigenden Vision von Befreiung. Die Hamas, meint selbst die moderate
Rula Hardal, werde Teil dieser Zukunft sein, in der Hoffnung, dass –
wie es bisher immer war – die Säkularen an Einfluss gewinnen, sobald
Schritte hin auf eine bessere Zukunft sichtbar werden.
Während meiner Reise las ich Mahmoud Darwischs Gespräche über
„Palästina als Metapher“. Darwisch wie Said, die beiden meistzitierten
Interpreten des palästinensischen Schicksals, überwanden auf je eigene
Weise immer wieder die Dichotomien von Identität und Nationalismus, an
einen namenlosen universalen Ort.
Im harten Sprechen dieser Tage wirkt die Mahnung Saids, es gelte zu
lernen, „wie man mit dem Anderen lebt statt gegen ihn“, wie aus ferner Zeit.
1 Zu den Details siehe „A Land for All. Two States, one homeland“, alandforall.org. <https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221#anker1>
2 Post auf X am 22. Mai 2024. <https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221#anker2>
3 Omri Boehm, „Israel – eine Utopie“, Berlin (Propyläen Verlag) 2020, S. 229. <https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221#anker3>
4 Edward W. Said, „Das Ende des Friedensprozesses“, Berlin (Berlin Verlag) 2002, S. 225. <https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221#anker4>
5 Siehe die Erzählung „Staub“ von Adania Shibli, LMd, Oktober 2006. <https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221#anker5>
6 Siehe „Das Trauma von 1948“, LMd, Januar 2023. <https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221#anker6>
7 Mahmoud Muna und Matthew Teller (Hg.), „Daybreak in Gaza. Stories of Palestinian Lives and Culture“, London (Saqi Books) 2024. <https://monde-diplomatique.de/artikel/!6015221#anker7>
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin.
Zuletzt erschien: „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, Berlin (Propyläen) 2022.
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10. IPG: Mehr, Mehr, Mehr
Trotz militärischer Überlegenheit gegenüber Russland herrscht eine Begeisterung
für Aufrüstung und Militarisierung. Warum?
Ernst Hillebrand Dr. Ernst Hillebrand ist Leiter des Büros der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. Zuvor war er Referatsleiter der
Internationalen Politikanalyse, des Referats für Mittel- und Osteuropa
sowie Leiter der Büros in Warschau, Paris, London und Rom.
https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/mehr-mehr-mehr-7602/?utm_campaign=de_40_20240625&utm_medium=email&utm_source=newsletter
Außen- und Sicherheitspolitik 25.06.2024 |
Mehr, Mehr, Mehr
Trotz militärischer Überlegenheit gegenüber Russland herrscht eine Begeisterung
für Aufrüstung und Militarisierung. Warum?
Eine seltsame Begeisterung für das Militärische hat dieses Land
ergriffen und vor allem seinen politischen Betrieb. Der Berliner
„Blob“, wie Hans Kundnani den wissenschaftlich-medial-politischen
Hauptstadtkomplex vor kurzem nannte, kennt derzeit mehrheitlich nur
eine Message: mehr Waffen, mehr Soldaten, mehr Geld für Rüstung.
Stellt man dies nicht bereit, „kommt der Russe“.
Für an Fakten und Zahlen orientierte Staatsbürger sind diese
Forderungen nicht ganz einfach zu verstehen. Egal welchen Indikator
man sich anschaut, man kommt immer zu demselben Ergebnis: Die NATO ist
Russland um ein Vielfaches überlegen. Vor allem die Forderung nach
mehr Geld erscheint grotesk:
Die kombinierten Rüstungsausgaben der NATO-Mitgliedstaaten überstiegen
2023 – einem Jahr, in dem Russland sich mitten in einem massiven
konventionellen Krieg befand – die Russlands um knapp das
Dreizehnfache: Fast 1,3 Billionen US-Dollar für die NATO stehen circa
110 Milliarden Dollar für Russland gegenüber.
Auch wenn man den Anteil der USA abzieht, übersteigen die
Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Mitglieder die Russlands immer
noch um das Dreifache. Seit Jahrzehnten besteht ein
Militärausgaben-Verhältnis in einer Größenordnung von zehn zu eins
zugunsten der NATO. Wenn das nicht zu genügend Sicherheit geführt hat
– was dann?
Denn es ist ja nicht so, als bildeten sich diese Ausgaben nicht in
militärischen Kapazitäten ab. Egal welche Indikatoren man heranzieht –
rein numerische oder auch qualitativ bewertende –, ist die NATO
Russland haushoch überlegen. Dies gilt, so das Webportal Global
Firepower Index, selbst für Szenarien, in denen die NATO lediglich 25
Prozent ihrer Kapazitäten zum Einsatz bringt, Russland aber 75
Prozent.
Das Argument, ein russischer Angriff auf NATO-Territorium wäre nach
einer Nicht-Niederlage in der Ukraine nur eine Frage der Zeit, wirkt
entsprechend freihändig. Mit der Ukraine hat Russland als global
zweitstärkste Militärmacht ein auf dem Papier militärisch vielfach
unterlegenes Land angegriffen (Rang 18 im Global Firepower Index). Ein
Angriff auf ein schwächeres Land hat eine innere militärische Logik:
Man kann einen solchen Krieg gewinnen. Ein Angriff auf einen vielfach
überlegenen Gegner hat sie nicht: Man kann diesen Krieg eigentlich nur
verlieren. Natürlich können sich politische Entscheider darüber
täuschen, welche Siegesaussichten sie im Falle eines militärischen
Konflikts haben, und der russische Überfall auf die Ukraine ist das
beste Beispiel dafür.
Aber angesichts der bestehenden kompletten Asymmetrie der
militärischen Arsenale der NATO und eines in der Ukraine ausblutenden
russischen Militärs erscheint dies als extrem unwahrscheinlich.
In vielerlei Hinsicht wirkt die gegenwärtige Berliner
Militarisierungsbegeisterung daher eher wie eine Art Überkompensation
für vergangene Fehleinschätzungen. Dies gilt gerade für die Grünen,
die in der Person Anton Hofreiters vor kurzem ein zusätzliches
100-Milliarden-Paket für Militärausgaben und die Aufhebung der
Schuldenbremse forderte.
Das ist derselbe Dr. Anton Hofreiter, der im Juli 2020 einen Antrag
der Grünen-Bundestagsfraktion unter dem Titel „Beitrag der Bundeswehr
gegen die Klimakrise stärken – CO2-Ausstoß der Streitkräfte deutlich
reduzieren und konsequent erfassen“ in den Bundestag einbrachte. Dort
wurde die Bundesregierung aufgefordert, „eine Strategie vorzulegen, um
den CO2-Ausstoß innerhalb der Bundeswehr in Gänze zu reduzieren und
sich auch innerhalb der NATO für eine generelle Reduktion des
CO2-Ausstoßes der Streitkräfte einzusetzen“.
Auch bei Waffenkäufen sollte das gelten. Es gelte „bei sämtlichen
Beschaffungsentscheidungen den CO2-Ausstoß stärker zu gewichten und,
wo es möglich ist, zu priorisieren“ sowie natürlich „Munitions-,
Raketentests sowie sonstige Schießübungen auf das notwendige Maß zu
reduzieren“.
Wir sprechen vom Juli 2020, mit Bundeswehrsoldaten in Mali und
Afghanistan, einem anhaltenden low intensity-Artilleriekrieg im
Donbass, einem anschwellenden Krieg zwischen Armenien und
Aserbaidschan und einem militärischen Konflikt in Syrien unter
direkter Beteiligung der NATO-Partner USA und Türkei.
Von ähnlicher militärischer Weitsicht zeugt auch der Antrag der
Grünen-Fraktion vom Dezember 2020, in der es um die Ablehnung von
bewaffnungsfähigen Drohnen ging – ein Antrag, dessen
verteidigungspolitische Klugheit man heute am Himmel über der Ukraine
täglich überprüfen kann.
Nicht unähnlich präsentiert sich das Bild aber auch bei der Union. Es
war die CDU-Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die ihre
vornehmste Aufgabe im Umbau der Bundeswehr zu einem
„familienfreundlichen Arbeitgeber“ gesehen hatte. Die damit
verbundenen Anpassungsmaßnahmen haben zeitweise die operativen
Fähigkeiten halber Waffengattungen gelähmt.
Und die Bundesakademie für Sicherheitspolitik veröffentlichte im Mai
2021 – Verteidigungsministerin war damals die ehemalige
CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer – eine Studie mit dem
schönen Titel „Vom Leopard zum E-Opard: Die Bundeswehr sollte bei der
Klimaneutralität vorangehen“.
Vor einigen Jahren brachte ein polnischer Teilnehmer bei einer Tagung
deutscher und polnischer Verteidigungsexperten die deutsche
Stimmungslage der späten Merkel-Jahre so auf den Punkt: „Wenn wir von
Sicherheitsbedrohungen sprechen, sprechen wir von
Mittelstreckenraketen in Kaliningrad. Wenn die Deutschen von
Sicherheitsbedrohungen sprechen, dann sprechen sie vom Bienensterben.“
Tatsächlich brauchte die Bundesrepublik damals und braucht sie jetzt
eine Neubewertung ihrer Verteidigungspolitik. Aber der Grund dafür
liegt weniger an einem dringenden Aufrüstungsbedürfnis gegen einen
überlegenen Gegner, sondern in der Tatsache, dass das langjährige
Trittbrettfahren Deutschlands bei den Verteidigungsanstrengungen des
Westens bei unseren Partnern nicht mehr akzeptiert wird.
Als reichste Volkswirtschaft der EU haben wir uns drei Jahrzehnte lang
nicht nur auf die USA verlassen, sondern auch darauf, dass wesentlich
ärmere Staaten gemessen am BIP sehr viel höhere Anteile in die
kollektiven Verteidigungsanstrengungen des Westens investiert haben
als wir. Diese Zeiten sind vorbei.
Eine fairere Verteilung der Verteidigungslasten zwischen stärkeren und
schwächeren Schultern innerhalb des atlantischen Bündnisses ist aber
etwas anderes als die gegenwärtige Begeisterung für Aufrüstung und
gesellschaftliche Militarisierung, die auch Teile des liberalen und
„progressiven“ Milieus erfasst hat.
Deutschland hat noch ein paar andere Baustellen, auf denen Geld gut
gebraucht werden kann: Wohnungsbau, Bildung, Infrastruktur,
Energiewende, Integration, Pflege, Digitalisierung, um nur ein paar
der Großaufgaben zu nennen.
Die politische und soziale Destabilisierung, die von ungelösten
Hausaufgaben in diesen Bereichen ausgeht, könnte sich als deutlich
realer erweisen als ein sehr unwahrscheinlicher, im Kern suizidärer
Angriff Russlands auf die NATO.
Und auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung dürfte von
Messerangriffen im öffentlichen Raum nachhaltiger gestört werden als
von der Angst, dass der russische Bär schon durchs Schlüsselloch
schnaubt.
Überkompensation für vergangene Fehleinschätzungen ist menschlich
verständlich. Sie ist aber keine rationale Politikbegründung. Für all
diejenigen, die es eher mit faktenbasierter Politik halten, bleibt
angesichts des Militarisierungsbegeisterung im Berliner „Blob“ der
gute alte Satz Joschka Fischers: „Sorry, but I am not convinced!“
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11. Friedenskooperative: Veranstaltungsreihe: Combatants for Peace - Dialog statt Waffen
https://www.friedenskooperative.de/aktion/veranstaltungsreihe-combatants-for-peace-dialog-statt-waffen-0
Die Friedensaktivisten Osama Illiwat und Rotem Levin der
israelisch-palästinensischen Organisation "Combatants for Peace"
berichten auf ihrer Vortragsreise durch Deutschland wieder von ihrer
persönlichen Entwicklung und ihrem gemeinsamen gewaltfreien Einsatz
für einen gerechten Frieden in Israel und Palästina.
Die Vortragsreihe von Ende Juni bis Ende Juli 2024 ist die Fortsetzung
der Termine von Anfang 2024.
Veranstaltungsreihe: Combatants for Peace - Dialog statt Waffen
Terminübersicht:
26.06.2024, Berlin <https://www.friedenskooperative.de/termine/talk-combatants-for-peace>
28.06.2024, Berlin <https://www.friedenskooperative.de/termine/fuer-frieden-in-israel-palaestina>
29.06.2024, Berlin <https://www.friedenskooperative.de/termine/combatants-for-peace-in-berlin-0>
01.07.2024, Hamburg <https://www.friedenskooperative.de/termine/combatens-for-peace-in-hamburg>
02.07.2024, Tüttendorf <https://www.friedenskooperative.de/termine/begegnung-mit-zwei-vertretern-von-combatants-for-peace-aus>
03.07.2024, Heide <https://www.friedenskooperative.de/termine/gewaltfrei-fuer-frieden-und-gerechtigkeit-in-israel-und>
04.07.2024, Köln <https://www.friedenskooperative.de/termine/gemeinsam-feindschaft-ueberwinden>
05.07.2024, Bonn <https://www.friedenskooperative.de/termine/fuer-hoffnung-und-menschlichkeit-1>
06.07.2024, Dortmund <https://www.friedenskooperative.de/termine/combatants-for-peace-in-dortmund>
07.07.2024, Bremen
08.07.2024, Bremen
09.07.2024, Hamburg
10.07.2024, Celle <https://www.friedenskooperative.de/termine/fuer-hoffnung-und-menschlichkeit-2>
11.07.2024, Frankfurt
12.07.2024, Bamberg
13.07.2024, München <https://www.friedenskooperative.de/termine/from-separation-to-collective-liberation>
15.07.2024, Landau
16.07.2024, Ludwigsburg <https://www.friedenskooperative.de/termine/frieden-ist-moeglich-1>
17.07.2024, Hirsau
18.07.2024, Esslingen
19.-21.07.2024, Reutlingen
22.07.2024, Tübingen
23.07.2024, Öhringen
24.07.2024, Stuttgart
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Mit freundlichen Grüßen
Clemens Ronnefeldt
Referent für Friedensfragen beim deutschen
Zweig des internationalen Versöhnungsbundes
unser Kommentar: Als Information zur Kenntnisnahme, wobei für uns das kriegerische Geschehen, wie z. B. in der Ukraine sowie in Israel, Palästina und sonstwo, keinerlei Zustimmung bzw. Rechtfertigung erhält.